Bitterzart
hat nicht Ihren Schwung, Anya. Sie hat nicht Ihr Feuer!«, entgegnete Mr. Beery.
»Ich glaube, Sie irren sich bei Scarlet, Mr. Beery.« Mein Leben lang hatte ich mit Menschen wie ihm zu tun gehabt. Menschen, die mich wegen meiner Familiengeschichte verklärten (zum Besseren oder Schlechteren). Auf gewisse Weise war Mr. Beery gar nicht so viel anders als Mrs. Cobrawick.
»In Ordnung, Ms. Balanchine«, sagte er. »Die Liste hängt morgen aus.«
Als ich ging, wartete Scarlet im Gang auf mich.
»Du warst aber lange bei ihm«, bemerkte sie.
»Wirklich?«, gab ich zurück.
»Wie lief es?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz gut, denke ich.«
»Na, auf jeden Fall hat er sich viel Zeit für dich genommen«, sagte Scarlet. »Das ist immer ein gutes Zeichen.«
Am nächsten Tag hing die Besetzungsliste an der Tür des Theaterraums. Scarlet war Lady Macbeth, wie sie gehofft hatte. Auch wenn ich mich nicht gewundert hätte, wenn ich gänzlich übergangen worden wäre, war ich als Hekate aufgeführt.
»Wer ist noch mal Hekate?«, fragte ich Scarlet.
»Die Oberhexe«, erwiderte sie. »Das ist eine gute Rolle!«
Ich hatte den Text der Hexe nicht gelernt, aber diese Wendung der Ereignisse passte mir gut.
Wir lasen immer noch die Besetzungsliste, als Win zu uns kam und gratulierte.
»Oberhexe«, sagte er zu mir. »Das ist die wichtigste von allen Hexen.«
»Wurde mir gesagt«, entgegnete ich.
»Du musst die anderen Hexen auf Linie halten«, sagte er.
»Ich denke, das schaffe ich.« Mein ganzes Leben lang hatte ich Hexen (und deutlich Schlimmeres) auf Linie gehalten.
Und so war meine Woche. Niemand wurde verhaftet. Niemand starb. Ich war die Oberhexe. Wenn auch keins meiner Probleme verschwunden war oder sich gebessert hatte, so war auch keines deutlich ernster geworden. Alles in allem nicht schlecht.
Am Freitag wurde Scarlet sechzehn, deshalb überredete ich meinen Cousin Fats, uns das Hinterzimmer seines Mondscheincafés zu überlassen. Aufgrund meiner juristischen Probleme und Gables Gesundheitszustand beschlossen wir, nur wenige Gäste einzuladen – einige von Scarlets Theaterfreunden, Natty, und das war es. Ich hatte nicht vor, Kaffee, Schokolade oder Ähnliches zu servieren, war mir aber dennoch nicht sicher, ob wir Win ebenfalls einladen sollten. Da es keine Überraschungsparty war, sprach ich mit Scarlet darüber. Zufälligerweise halte ich nichts von Überraschungspartys. Ich werde nicht gerne überrascht und glaube auch nicht, dass es anderen gefällt. Doch zurück zu Win. »Er weiß doch, was deine Familie macht, Annie«, sagte Scarlet. »Das ist kein großes Geheimnis. Ich finde, wir laden ihn auf jeden Fall ein.«
Ich hatte Scarlet nichts von meinem Gespräch mit Wins Vater erzählt. Genau genommen hatte ich niemandem davon berichtet. Es war mir wohl zu peinlich. »Lad ihn ein, wenn du willst«, sagte ich zu ihr.
Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe mich bei diesem Jungen schon oft genug zum Narren gemacht, vielen Dank auch. Das übernimmst du.«
»Gut«, sagte ich. »Stört es dich, wenn ich auch Leo frage?«
»Natürlich nicht!«, sagte Scarlet. »Warum sollte mich das stören? Ich hab deinen Bruder total gern.«
Auf gewisse Weise war das das Problem. Es war mir immer deutlicher geworden, dass Leo meine beste Freundin mehr als mochte, und ich wollte nicht, dass er mit gebrochenem Herzen endete. Scarlet flirtete mit jedem, aber ich machte mir Sorgen, dass Leo das nicht verstand.
»Was ist mit deinem Anwalt?«, fragte Scarlet.
»Mr. Kipling? Der ist noch im Krankenhaus.«
»Nein, nicht Mr. Kipling! Mit dem jungen. Simon heißt er doch, oder?«, fragte sie.
Ich sagte ihr, dass er gar nicht so jung sei.
»Wie nicht-so-jung ist er denn?«
»Siebenundzwanzig«, sagte ich.
»Alt ist das auch nicht. Nur elf Jahre älter als ich.«
»Du bist schon so schlimm wie Natty«, bemerkte ich.
Scarlet machte einen Schmollmund. »Na, ich mag halt keine Jungen in meinem Alter.«
Ich schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Du bist ein hoffnungsloser Fall«, sagte ich.
»Und die ich mag, die mögen mich nicht.«
Natty und ich gingen etwas früher zu Fats, um das Hinterzimmer vorzubereiten. Im Laden standen schmiedeeiserne Tische und Stühle, hinten zog sich vor der Wand eine große Holztheke entlang. In schweren Goldrahmen hingen alte Werbeplakate für Alkohol. Angeblich wurde nur Wein serviert, doch im ganzen Laden roch es nach Kaffeebohnen. Der Geruch
Weitere Kostenlose Bücher