Bitterzart
draußen auf den Balkon«, schlug ich vor.
Der Balkon war direkt vor dem Esszimmer. Man schaute auf den Central Park, sah sogar eine Ecke von Little Egypt. Von hier musste man früher einen tollen Ausblick gehabt haben.
Mein Cousin kam sofort zur Sache. »Hör mal, Anya, das mit der Schokolade tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass sie vergiftet war. Ich dachte wirklich, ich würde Galina damit eine Freude machen.«
»Es ist gut, dass du das sagst«, gab ich zurück. »Denn für mich stellt sich das folgendermaßen dar: Du hast die Schokolade extra schnell zu uns gebracht, damit unsere ganze Familie daran stirbt.«
»Nein!«, protestierte Jacks. »Warum sollte ich auch nur einen von euch vergiften wollen? Was würde mir das bringen?«
»Ich habe keine Ahnung, Jacks. Aber so sieht das für mich aus.«
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Du weißt das wahrscheinlich auch, ohne dass ich es sagen muss, aber ich stehe in dieser Organisation sehr weit unten. Mir erzählt niemand irgendwas. Ich wurde genauso wenig gewarnt wie du, dass diese Schokolade vergiftet war. Das musst du mir glauben!«
»Warum ist es dir wichtig, dass ich dir glaube?«, wollte ich wissen.
Jacks senkte die Stimme. »Weil sich in der Familie einiges tut. Die vergiftete Schokolade war nur der Anfang. Man ist der Meinung – und damit meine ich nicht mich –, aber man ist der Meinung, dass Yuri schwach ist. Ich glaube, die Vergiftung war die Maßnahme einer anderen Großfamilie.«
»Von wem denn?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ist nur eine Vermutung, aber es könnten die Mexikaner oder die Brasilianer sein. Selbst die Franzosen oder Japaner. Alle großen Unternehmen auf dem Schokoladen-Schwarzmarkt. Es gibt noch nicht genug Informationen, um den Verdacht auf irgendwen zu beschränken. Die Sache ist, Anya, du hättest die Bullen auf mich ansetzen können. Das hast du nicht gemacht, keine Ahnung, warum nicht, aber ich weiß das zu schätzen. Und ich wollte dir sagen, dass ich dir oder deinen Geschwistern niemals etwas antun würde.«
»Danke«, sagte ich. In Wahrheit glaubte ich nicht, dass Jacks versucht hatte, uns zu vergiften, aber auch nur weil er zu wenig Einfluss hatte, um so ein großes Vorhaben zu organisieren (oder auch nur davon zu erfahren). Außerdem wollte ich all das hinter mir lassen, und je weniger ich von meinen Verwandten hörte, desto besser.
»Sind wir also Freunde?«, fragte Jacks und hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie nur, weil es noch unhöflicher gewesen wäre, es nicht zu tun. Jacks war nicht mein Freund. Es war mir nicht entgangen, wie rar er sich während meines Aufenthalts in Liberty gemacht hatte. So ein Verhalten kam mir nicht gerade freundschaftlich vor.
Als die Verwandtschaft fort war, verbrachte ich den Rest des Tages mit Hausaufgaben, und ehe ich mich versah, war der Sonntag herum. Gegen neun Uhr hörte ich das Telefon klingeln. Natty klopfte an meine Tür. »Win ist dran«, sagte sie.
»Sag ihm, ich schlafe.«
»Aber das tust du nicht!«, protestierte Natty. »Und er hat gestern auch schon angerufen.«
Ich verließ den Schreibtisch und knipste das Licht aus. »Ich schlafe wirklich, Natty, siehst du?«
»Ich hab dich lieb, Annie, aber das finde ich nicht gut«, sagte sie. Ich hörte, wie sie in die Küche zurückging, und konnte kaum verstehen, wie meine kleine Schwester am Telefon für mich log.
Ich legte mich ins Bett und zog die Decke hoch bis unters Kinn. Die Nachtluft fühlte sich herbstlich an.
Ich wusste, dass nichts von dem, was Charles Delacroix zu mir gesagt hatte, wirklich zählte.
Und dennoch wusste ich, dass es von Bedeutung war.
Mein Vater hatte immer gesagt, wenn man wisse, dass eine Möglichkeit zu einem schlechten Ergebnis führe, dann könne sie nur eine Möglichkeit für einen Narren sein, also keine. Und ich bildete mir gerne ein, dass mein Vater mit mir keine Närrin großgezogen hatte.
XI.
Ich definiere für Scarlet Tragödie
An der Schule wurde ich mit Samthandschuhen angefasst. Da ich von jeder Beteiligung an Gable Arsleys Vergiftung freigesprochen war, fürchtete die Verwaltung wohl, die Sache mit mir verbockt zu haben – schon als man der Polizei erlaubte, mich auf dem Schulgelände zu befragen, ohne vorher Nana oder Mr. Kipling zu benachrichtigen –, und man machte sich wohl Sorgen, dass ich die Schule entweder verklagte oder, noch schlimmer, Geschichten erzählte, die ihrem bisher tadellosen Ruf als beste Privatschule von Manhattan schadeten. Meine
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