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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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»Setz dich aufs Bett.«
    Bisher hatte ich an der Tür gestanden. Obwohl Gable an den Rollstuhl gefesselt war, nahm ich mich vor ihm in Acht. Es waren schlimme Dinge passiert, als wir beide allein waren.
    »Ich beiße nicht«, sagte er, so als forderte er mich heraus.
    »Okay.« Da keine Stühle zur Verfügung standen, ging ich zum Bett und setzte mich drauf.
    »Weißt du, warum mir der Fuß abgenommen wurde? Eine Sepsis. Hatte ich noch nie von gehört. Der Körper stellt sozusagen den Betrieb ein und greift sich selbst an. Hab auch drei Fingerkuppen verloren.« Er winkte mir mit der verstümmelten Hand zu. »Aber angeblich soll ich noch Glück gehabt haben. Ich werde wieder gehen und sogar tippen können. Sehe ich nicht wirklich sehr, sehr glücklich aus?«
    »Doch, siehst du.« Ich dachte an Leo, an meine Mutter und meinen Vater. »Du siehst aus wie jemand, der etwas Furchtbares überlebt hat.«
    »So will ich aber nicht aussehen«, sagte Gable. »Ich hasse Überlebende.« Das letzte Wort spie er regelrecht aus.
    »Mein Vater hat immer gesagt, eigentlich müsste man im Leben nichts anderes sein als ein Überlebender.«
    »Ach, erspar mir die weisen Ergüsse dieses Verbrechers! Glaubst du, ich möchte irgendwas hören, das dein Vater gesagt hat?«, fragte Gable. »Die ganze Zeit, als ich mit dir zusammen war, ging es Daddy hier und Daddy da . Dein Vater ist schon seit tausend Jahren tot. Werde endlich erwachsen, Anya!«
    »Ich gehe jetzt«, sagte ich.
    »Nein, warte! Geh nicht, Annie! Ich vergraule jeden, es tut mir leid.« Seine Stimme war weinerlich. Ich glaube, ich bekam Mitleid mit ihm.
    »Ich finde, du bist immer noch attraktiv«, bemerkte ich. Und das stimmte. Seine Haut würde heilen. Er würde wieder gehen können, dann wäre er derselbe furchtbare Gable, der er immer gewesen war, nur hoffentlich ein wenig netter und einfühlsamer als früher.
    »Meinst du wirklich?«
    »Ja«, versicherte ich ihm.
    »Du bist eine verfluchte Lügnerin!«, brüllte Gable. Er rollte ans Fenster. »Ich habe jeden Tag an dich gedacht, Annie«, sagte er leise. »Jeden Tag habe ich darauf gewartet, dass du von selbst kommst, aber du warst nicht hier. Ich dachte, du würdest es tun, da du ja gewissen Anteil an meinem Schicksal hast, aber du bist nicht gekommen.«
    »Das tut mir leid, Gable«, sagte ich. »Wir hatten nicht gerade das beste Verhältnis, als es passierte, trotzdem wollte ich eigentlich kommen. Ich weiß nicht, ob du es gehört hast, aber ich wurde nach Liberty Island geschickt. Danach war ich selbst eine Weile krank. Und dann habe ich wohl einfach die Zeit aus den Augen verloren. Ich hätte kommen sollen.«
    »Hättest du. Wolltest du. Konntest du. Bist du aber nicht.«
    »Es tut mir wirklich leid.«
    Gable schwieg. Immer noch sah er aus dem Fenster. Nach einer Weile hörte ich ihn schniefen.
    Ich ging zu ihm. Tränen liefen über sein zerstörtes Gesicht.
    »Ich habe dich so schlecht behandelt«, wimmerte er. »Ich habe furchtbare Dinge über dich erzählt. Und ich wollte dich zwingen …«
    »Alles vergessen«, log ich. Niemals würde ich vergessen, was Gable fast getan hatte, doch er war schon genug bestraft worden.
    »Und du hast mich geliebt! Wie du mich immer angesehen hast! Nie wieder wird mich jemand so ansehen.«
    Ich hatte ihn nicht geliebt, doch es erschien mir gemein und nebensächlich, das jetzt richtigzustellen.
    »Du warst meine einzige richtige Freundin. All die anderen haben mir nichts bedeutet. Ich schäme mich so«, sagte er. »Kannst du mir verzeihen, Annie?«
    Er war wirklich mitleiderregend. Ich kam zu dem Schluss, ich könnte ihm wirklich vergeben – das sagte ich ihm auch.
    »Ich werde Freunde brauchen, wenn ich zurück an die Schule komme. Können wir Freunde sein?«
    »Ja, sicher.«
    Er hielt mir seine gesunde Hand hin, damit ich sie schüttelte. Ich ergriff sie. Er zog mich an sich. Es kam so plötzlich, dass ich auf ihn zustolperte. Er küsste mich auf den Mund. »Gable, nein!« Ich richtete mich auf und schob seinen Rollstuhl so heftig von mir, dass die Griffe hinten gegen das Fenster stießen.
    »Was ist?«, sagte er. »Ich dachte, wir wären wieder Freunde.«
    »Ich küsse meine Freunde nicht auf den Mund«, sagte ich.
    »Aber du hast dich vorgebeugt«, stammelte er.
    »Bist du verrückt? Ich bin gestolpert!«
    Ich wandte mich zum Gehen, und mit erstaunlicher Kraft und Schnelligkeit steuerte Gable den Rollstuhl auf mich zu. Ich fiel auf sein Krankenbett. In dem Moment stürzte Win ins

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