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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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gegenüber schlecht benommen hätte. Seine Ärzte meinten, er könne bald in die Schule zurückkehren, und bevor er das tat, wolle er gerne sicherstellen, dass zwischen uns beiden alles geklärt war.
    Ich war schon einmal im Reha-Zentrum Sweet Lake gewesen, weil Leo nach seinem Unfall dort einen kurzen Aufenthalt gehabt hatte. Es war eine nette Einrichtung, insofern man diese Art von Einrichtungen nett finden konnte. Ich hatte schon so manches Krankenhaus und Reha-Zentrum besucht, und was mir dort immer die größte Angst machte, war nichts, das man sehen konnte, sondern der Geruch. Der Gestank von chemischen Reinigungsmitteln, ekelerregend süß, der sogar Krankheit, Schwäche und Tod übertünchte. Ironischerweise hatte Sweet Lake keinen See, sondern nur eine große Senke, die wohl mal ein See oder Teich gewesen sein musste.
    »Soll ich mit dir reingehen?«, fragte Win, als wir den Eingangsbereich betraten. Wir waren so weit von zu Hause entfernt, dass wir uns sicher fühlten, Händchen halten zu können, doch im Gebäude wollte ich das nicht, falls Gables Eltern, Geschwister oder Freunde in der Nähe waren.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Das geht schon.«
    »Ich finde, ich sollte mitkommen. Ist das nicht der Junge, der versucht hat, sich dir aufzudrängen?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, Win, weiß ich nicht mehr, wer er ist, aber mein Gefühl sagt mir, wenn du mit im Zimmer bist, wird ihn das nur …« – ich suchte nach dem richtigen Wort – »… irritieren. Außerdem kann ich mich wehren. Ich passe schon seit Jahren selbst auf mich auf.«
    »Das weiß ich. Das gehört zu den Dingen, die mir am besten an dir gefallen. Ich will dir nur hin und wieder das Leben leichter machen.«
    »Tust du doch«, sagte ich und gab ihm schnell einen Kuss auf die Nase. Eigentlich wollte ich es dabei belassen, doch dann küsste ich ihn erneut, auf den Mund.
    Win nickte. »Schon gut, du toughes Mädel. Ich warte hier unten auf dich. Wenn du in einer halben Stunde nicht zurück bist, komme ich aber hinterher.«
    Ich meldete mich bei der Frau am Empfang mit Namen an, und sie nannte mir Gables Zimmernummer, 67, und wies einen Gang hinunter.
    Ich klopfte an die Tür.
    »Wer ist da?«, hörte ich Gable fragen.
    »Anya«, sagte ich.
    »Komm rein!« Seine Stimme klang auf eine Art sonderbar, die ich nicht richtig einordnen konnte.
    Ich öffnete die Tür.
    Gable saß in einem Rollstuhl vor dem Fenster. Er drehte sich um, und ich erblickte sein Gesicht. Die Haut war an einigen Stellen pockennarbig, an anderen war das rohe Fleisch zu sehen. Ein sonderbarer Hautlappen war von der linken Wange bis zum Mundwinkel genäht – diese Hautverpflanzung war es, die ihn beim Sprechen leicht behinderte. Einige Finger waren verbunden. Sein Körper wirkte unglaublich schwach und dünn. Ich fragte mich, warum er im Rollstuhl saß, und mein Blick wanderte zu seinen Oberschenkeln, seinen Knien, dann zu seinem Fuß. Ja, er hatte nur noch einen Fuß. Der rechte war amputiert.
    Gable merkte, dass ich ihn musterte. Seine graublauen Augen waren dieselben geblieben. »Findest du mich abstoßend?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich ehrlich. Meine Lebensumstände hatten mir nie den Luxus gegönnt, zimperlich mit Verletzungen umzugehen.
    Gable lachte – ein flaches, blechernes Geräusch. »Dann lügst du.«
    Ich erinnerte ihn, dass ich in meinem Leben schon Schlimmeres gesehen hatte.
    »Ja, natürlich«, gab er zurück. »Aber um ehrlich zu sein, Annie, finde ich mich selbst abstoßend. Was sagst du dazu?«
    »Ich kann verstehen, dass du so empfindest. Dir ist dein Aussehen immer sehr wichtig gewesen. Wie damals in der Schule … Ich wusste, dass es für dich am schlimmsten sein würde, Spaghettisoße auf dem Hemd zu haben – schlimmer als alles andere« – ich machte eine Pause und sah ihn an, er nickte und lächelte sonderbarerweise sogar ein wenig bei der Erinnerung –, »aber wie du jetzt aussiehst … Man kann nicht leugnen, dass du dich verändert hast, aber ich würde sagen, es ist nicht so schlimm, wie du glaubst.«
    Gables Lachen war nicht mehr als ein erbärmliches Blöken. »Alle sagen, ich soll nicht so reden, aber du nicht. Deshalb liebe ich dich, Annie.«
    Ich hatte nicht das Gefühl, antworten zu müssen. Er war trotz allem ein Lügner.
    »Lange habe ich mir gewünscht, ich wäre gestorben«, sagte Gable. »Aber jetzt nicht mehr.«
    »Das ist gut«, erwiderte ich.
    »Komm mal näher«, schlug Gable vor.

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