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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Punkt. Ich konnte Wasser, Dunkelheit und Land sehen und dahinter die Skyline von Manhattan, wo ich mein ganzes trauriges Leben verbracht hatte. Am liebsten wäre ich für immer dort oben schweben geblieben. Alles Schlimme geschah am Boden. Die Höhe gab mir Sicherheit.
    »Am liebsten würde ich immer hier oben bleiben«, sagte Win.
    Ich beugte meinen Kopf zu ihm und küsste ihn. Der Metallkorb, in dem wir saßen, begann zu schaukeln und zu quietschen.

    Natty war die Einzige, der ich es erzählte. Nicht einmal Scarlet weihte ich ein. Sie war zu sehr damit beschäftigt, Lady Macbeth zu sein. (Hekate entpuppte sich als eine weit weniger anspruchsvolle Rolle.) Falls Scarlet auffiel, dass Win wieder zusammen mit uns zu Mittag aß, so sagte sie nichts dazu. Zusätzlich zum Theaterstück war Scarlet mit ihrer eigenen kleinen Liebesgeschichte beschäftigt – mit Garrett Liu, der den Macduff gab.
    In der Schule achteten Win und ich darauf, dass wir nie zu zweit gesehen wurden. Scarlet war meistens bei uns, und ich fing ihn nie an seinem Spind oder woanders ab.
    In Rechtsmedizin II waren wir beide weiterhin ein Laborteam, und das war wahrscheinlich die qualvollste Stunde des Tages für mich. Ich wollte ihn berühren, unter dem Tisch seine Hand halten, ihm ein Zettelchen schreiben, doch ich tat nichts dergleichen. Ich wusste, dass unsere Beziehung zu Ende wäre, sobald unsere Mitschüler davon erführen oder über uns redeten. Wenn es dazu käme, würde die Nachricht mit Sicherheit schnell bei Wins Vater landen, und ich glaubte nicht, dass unsere kleine Jugendliebe das überleben würde.
    Ja, es war Folter.
    Doch solange es lief, war es auch irgendwie aufregend, dieses Geheimnis zu bewahren.

    Am Schultag vor der Premiere von Macbeth musste Scarlet an einer außerordentlichen Probe teilnehmen, so dass Win und ich allein im Speisesaal saßen. Es wäre sonderbar gewesen, wenn wir nicht gemeinsam gegessen hätten, da jeder wusste, wo Win immer saß. Dennoch schlug ich vor, uns zu seinen Freunden von der Band ohne Namen zu gesellen, aber er meinte, es wäre besser, wenn wir uns an unsere Gewohnheiten hielten.
    Das Essen schien sich ewig hinzuziehen. Es war eine Qual, bei ihm zu sein und doch nicht bei ihm zu sein. Allein zu sein und gleichzeitig nicht allein. Wir unterhielten uns über das Theaterstück, die Band, das Wetter, unsere Urlaubspläne und andere unverfängliche Themen, so als hätten wir Angst, ein Gespräch über etwas Interessanteres könne mehr offenbaren, als uns lieb war. Die Holztische waren schmal, und irgendwann spürte ich sein Knie an meinem. Ich wich ihm aus, aber sein Knie rückte nach. Ich schüttelte den Kopf, nur ganz leicht, und kniff die Augen zusammen. In dem Moment setzte sich Chai Pinter aus unserem Rechtsmedizin-Kurs neben Win. »Hi, Win«, sagte sie. »Annie.« Ahnungslos begann sie von Konzerten zu erzählen, die sie und ihre Freunde in den Ferien besuchen wollten. Ich konnte mich kaum auf ihr Gerede konzentrieren, weil sie Win ständig anfasste. Wirklich unablässig. Ihre Hand auf seiner. Dann ihre Hand auf seiner Schulter. Kurz darauf strich sie ihm das Haar hinters Ohr. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht über den Tisch zu langen und sie mit bloßen Händen zu erwürgen. Ich holte tief Luft und redete mir die schwarzen Gedanken aus.
    »Und, willst du mitkommen?«, fragte sie. »Ich hab nämlich noch eine Karte übrig. Ich meine, wir sind eine große Gruppe, hat also nichts mit einem Date zu tun … Es sei denn, du hättest nichts dagegen?«
    Träumte ich? Versuchte da gerade jemand, sich vor meinen Augen mit meinem Freund, wenn auch meinem geheimen Freund, zu verabreden? Ich fragte mich, ob wir unsere Spuren vielleicht zu gut verwischt hatten. Wieder verspürte ich den Drang, über den Tisch zu greifen, nur war es diesmal Win, den ich packen wollte. Ich wollte ihn vor allen Leuten auf den Mund küssen, damit jeder wusste, dass er nur mir, mir allein gehörte.
    »Tut mir leid«, erwiderte Win. »Das ist eine wirklich nette Einladung, aber meine Freundin hätte sicher etwas dagegen.«
    »Oh«, sagte Chai. »Du meinst Alison Wheeler? Sie hat gesagt, ihr wärt nur befreundet.«
    »Nein. Eine Freundin von meiner alten Schule. Ist eine Fernbeziehung.« Win log so locker, dass ich mich fast fragte, ob er wirklich noch eine Freundin an seiner alten Schule hatte. In dem Moment klingelte es zur nächsten Stunde, und Win erhob sich. »Bis dann, Chai.« Er nickte mir zu.

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