Bitterzart
Irgendwann begann Leo zu reden, aber ich war so zerstreut, dass ich ihn bitten musste, das Gesagte zu wiederholen. Er wollte wissen, ob ich das, was ich zu Imogen gesagt hatte, wirklich ernst gemeint hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich gemeint habe. Ich gehe jetzt rein zu Nana. Willst du mitkommen?«
Leo schüttelte den Kopf.
Ich öffnete die Tür zu Nanas Zimmer. Ihre Augen waren geschlossen, ihre knotigen Finger lagen friedlich auf ihrer Brust. Ich nahm an, das hatte Imogen getan.
»Oh, Nana.« Ich holte tief Luft und drückte einen Kuss auf ihre faltige Wange.
Da nahm ich ein Flüstern wahr. Nana und ich waren nicht allein. Natty kniete neben dem Fenster am Bett, den Kopf im Gebet gesenkt.
Sie hob den Blick. »Ich wollte nur schnell rein und ihr von der Hochzeit erzählen … und dann … sie ist tot.« Ihre Stimme war schwach und kindlich, kaum mehr als ein Flüstern.
»Ich weiß.«
»Es ist wie in meinem Traum«, sagte Natty.
»Bisher ist niemand zu Sand zerbröselt, soweit ich das sehen kann«, bemerkte ich kühl.
»Mach dich nicht über mich lustig«, mahnte sie. »Ich meine es ernst.«
»Ich mache mich nicht lustig. In deinem Traum sind wir alle gestorben, oder? In Wirklichkeit ist nur Nana tot. Du wusstest, dass es irgendwann so weit sein würde. Das habe ich dir gestern schon erklärt.« In dem Moment wurde mir klar, wie lächerlich und falsch es gewesen war, Imogen zu verdächtigen. Ich bedauerte mein Verhalten und fragte mich, warum ich immer mit Wutausbrüchen auf jede Neuigkeit reagierte. Traurigkeit, Sorge, Angst – all diese Gefühle äußerten sich bei mir als Wut. Wenn ich in dem Moment mutiger gewesen wäre, hätte ich vielleicht geweint.
»Ja, ich wusste, dass sie sterben würde«, gab Natty zu, »aber ein Teil von mir wollte es nicht glauben.«
Ich schlug vor, gemeinsam für Nana zu beten, nahm Nattys Hand und kniete mich ans Bett.
»Bete doch laut für sie«, schlug Natty vor. »Das, was bei Daddys Beerdigung vorgelesen wurde.«
»Kannst du dich noch daran erinnern?«
Natty nickte. »Ich kann mich an vieles erinnern.«
»Und Jesus sagte zu ihr: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben …‹« Ich hielt inne. »Tut mir leid, Natty, weiter kenne ich es nicht auswendig.«
»Schon gut«, sagte sie. »Das reicht schon. Es ist wunderschön, nicht? Es bedeutet, dass sie eigentlich nicht tot ist. Zumindest nicht in der Hinsicht, die wichtig ist. Irgendwie hab ich dadurch viel weniger Angst. Und fühle mich nicht so allein.« Sie hatte Tränen in den Augen.
»Du bist nicht allein, Natty. Ich werde immer für dich da sein. Das weißt du doch.« Ich wischte ihr die Tränen von den Wangen.
»Aber, Annie, wie geht es jetzt weiter? Du bist noch nicht alt genug, um dich um uns zu kümmern. Übernimmt Leo das jetzt?«
»Leo wird unser Vormund, ja. Und ich werde mich weiterhin um alles kümmern, so wie bis jetzt auch. Was dich angeht, wird sich nichts ändern, das verspreche ich.« Mir wurde klar, dass es diese Situationen waren, in denen Eltern ihre Kinder letztendlich belogen. Sie versprachen Sicherheit, obwohl sie eigentlich nur das Beste hoffen konnten. Ich betete zu Gott, dass alles glatt laufen würde. »Am besten rufe ich jetzt sofort Mr. Kipling an, um alles in die Wege zu leiten.« Es gab so viel zu tun. Wenn ich nicht sofort damit anfing, mochte mich die Belastung vielleicht sogar lähmen. Ich nahm Natty bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Vorsichtig schloss ich Nanas Tür hinter uns. Dann ging ich in mein Zimmer und griff sofort zum Telefon.
Mr. Kipling war erst vor kurzem nach seinem Herzinfarkt ins Büro zurückgekehrt. »Anya«, sagte er, »ich stelle den Lautsprecher an. Von jetzt an hört Mr. Green mit. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass ich einen Rückfall bekomme, auch wenn ich keinen Grund habe, das anzunehmen.«
»Hallo, Simon«, grüßte ich.
»Hallo, Ms. Balanchine«, gab Simon Green zurück.
»Was können wir heute für dich tun?«, fragte Mr. Kipling.
»Galina ist tot«, sagte ich mit neutraler Stimme.
»Mein Beileid«, erwiderte Mr. Kipling.
»Von mir ebenfalls«, fügte Simon Green hinzu.
»Sie war sehr alt.« Es fühlte sich bereits an, als spräche ich von jemandem, den ich kaum gekannt hatte.
»Ich kondoliere von Herzen, möchte dich aber auch beruhigen, Anya. Du weißt sehr
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