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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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saß nun auf dem Platz, der vorher seiner gewesen war.

    Weil wir es vor der Sperrstunde nicht mehr zurück nach New York schafften, hatten wir vereinbart, die Nacht in einer der Remisen auf dem Familiengelände in Tarrytown zu verbringen. Ich war auf einem Zimmer mit Natty, Win sollte sich den Raum mit meinem Bruder teilen. Leo ging, um mit Jacks und einigen unverheirateten Kumpels vom Pool herumzuhängen, ich brachte Natty zu Bett und wollte dann Win Gesellschaft leisten. Win war eher nachtaktiv, deshalb wusste ich, dass er wach sein würde. Ich war übrigens genau das Gegenteil. Sobald ich in der Waagerechten war, schlief ich ein. Wenn ich nicht so ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, Win zu dieser furchtbaren Hochzeit geschleppt zu haben, wäre ich glücklich neben Natty ins Bett geschlüpft und sofort eingeschlafen. Die Reise und die unbequemen Schuhe hatten mich total erschöpft.
    Es mag albern klingen, aber ich achtete darauf, sowohl meinen Schlafanzug als auch einen Bademantel anzuziehen, den ich im Schrank fand. Trotz unserer Gespräche über Enthaltsamkeit waren Win und ich mehr als einmal kurz davor gewesen. Also: Bademantel und Schlafanzug mussten sein.
    Win lag auf dem Bett und spielte auf einer verstimmten Gitarre, die er irgendwo im Haus gefunden hatte. Ihr fehlte eine Saite, und der Korpus hatte ein Loch am Rand. Als Win mich in meiner Aufmachung sah, musste er grinsen. »Du siehst süß aus«, sagte er. Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl im Zimmer, zog die Knie an die Brust und legte den Kopf darauf. Ich gähnte. Win schlug vor, ich solle mich aufs Bett legen, doch ich schüttelte den Kopf. Er fuhr fort, auf der Gitarre zu klimpern, dann sprang die Heizung an. Die Hitze machte mich noch müder, aber gleichzeitig wurde mir auch, ähm, heiß … Ich zog den Bademantel aus.
    »Das ist ja albern. Leg dich aufs Bett. Ich versuche auch nichts, versprochen«, sagte Win. »Ich wecke dich, wenn Leo zurückkommt.«
    Ich nickte. Dann legte ich mich auf die andere Seite des Betts und schlief ein.
    Ungefähr eine Stunde später wachte ich auf. Win schlummerte neben mir mit der Gitarre auf der Brust. Ich hob sie runter und legte sie auf den Boden. Dann konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich küsste ihn.
    Er rührte sich, erwachte, erwiderte den Kuss.
    Ich wollte seine Haut auf meiner spüren und griff unter sein T-Shirt.
    Und ehe ich mich versah, hatten wir mir den Schlafanzug ausgezogen. Es geschah so schnell, dass es mir rückblickend albern vorkam zu glauben, der Schlafanzug sei ein wirksames Hindernis für irgendwas. Ich fragte Win, ob er ein Kondom dabeihabe. Ich, Anya Balanchine, das fast immer brave katholische Mädchen. Ich konnte kaum glauben, dass diese Worte aus meinem Mund kamen.
    Ja, sagte er, habe er. »Aber nur, wenn du auch wirklich willst, Annie.«
    Mein Körper wollte, auch wenn der Kopf sich noch sträubte. »Ja«, stammelte ich. »Will ich. Zieh es bloß schnell über.«
    In dem Moment ertönte ein Schrei aus dem Nebenzimmer. Natty hatte wieder einen Albtraum.
    »Ich muss zu ihr«, sagte ich und löste mich von Win.
    Weil ich es eilig hatte, ließ ich den Schlafanzug auf dem Boden liegen und warf mir nur den Bademantel über.
    Als ich ankam, war Natty bereits wach. Ihr Gesicht war gerötet und tränenüberströmt.
    Ich nahm sie in die Arme. »Was war es diesmal?«, fragte ich.
    »Nana«, flüsterte sie. »Ich war bei uns in der Wohnung, und Nana war tot. Ihr Gesicht war grau wie Stein. Und als ich sie berühren wollte, fielen ihre Finger ab, und sie zerbröselte zu Sand.«
    Die Art von Albtraum war nicht neu. Auch wenn ein großer Teil meines Gehirns damit beschäftigt war, wozu es mit Win gerade fast gekommen wäre, konnte ich meine kleine Schwester dennoch trösten. »Nana wird wirklich eines Tages sterben, Natty«, sagte ich. »Damit müssen wir immer rechnen.«
    »Das weiß ich!«, rief sie. »Aber dass Nana starb, war nur der Anfang. Als ich in dein Zimmer ging, lagst du auf dem Bett, und deine Haut war so grau wie die von Nana. Dann bin ich zu Leo gegangen, und er sah genauso aus. Ich war als Einzige übrig.« Wieder begann sie zu weinen.
    »Leo und ich werden nicht sterben, Natty. Jedenfalls nicht in nächster Zukunft. Wir sind jung und gesund.«
    »Das waren Daddy und Mommy auch«, gab sie zurück.
    Ich zog sie noch fester an mich. Win schien weit weg zu sein. »Unser Leben wird nicht so sein wie ihres. Das wirst du schon sehen. Alles, was ich tue, jeder meiner Gedanken,

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