Bitterzart
weinen.)
In jener Nacht schlief ich in Nanas Zimmer ein.
Ich erwachte bei Sonnenaufgang, den ich von meinem nach Westen gerichteten Zimmer aus nicht sehen konnte. Jetzt verstand ich, warum Nana diesen Raum gemocht hatte. Ihr Schrank war größer als meiner, und das morgendliche Licht war umwerfend.
Mr. Kipling und ich hatten besprochen, wie wichtig es war, alles wie gewohnt weiterlaufen zu lassen; besonders Natty und ich sollten wie immer zur Schule gehen. Das taten wir. Wir hatten geschwollene Augen und waren nicht auf den Lehrstoff vorbereitet, dennoch gingen wir hin.
Ich erzählte es Scarlet beim Fechten. Sie weinte und sagte nichts besonders Hilfreiches.
Win erfuhr es beim Mittagessen. Er wollte wissen, warum ich ihn nicht angerufen und es ihm früher gesagt hätte. »Ich wäre vorbeigekommen«, sagte er.
»Es gab aber nichts für dich zu tun«, erwiderte ich.
»Trotzdem«, beharrte er. »Du hättest nicht allein sein sollen.«
Ich musste an mein Gespräch mit Mr. Kipling denken. Ich schaute Win an und fragte mich, ob ich ihn aufgeben sollte. Angemessener war wohl die Frage, ob ich ihn aufgeben konnte . »Win, bitte tu mir einen Gefallen und erzähl deinem Vater noch nicht, dass meine Großmutter tot ist.«
»Als ob ich das tun würde«, sagte er. »Ich erzähle dem Mann überhaupt nichts.«
»Ich weiß«, entgegnete ich. »Aber ich will nicht als Problem enden, das dein Vater lösen muss.«
Win wechselte das Thema. »Wann ist die Beerdigung?«, wollte er wissen. »Ich begleite dich.«
»Es gibt keine Beerdigung, nur eine Totenwache am Samstag im Pool. Im engsten Familienkreis.« Ich hielt es für keine besonders gute Idee, wenn Win mich begleitete.
»Wenn du nicht willst, dass ich mitkomme, musst du es nur sagen, ja?«
»Das ist es ja nicht …« Plötzlich war ich erschöpft. Ich hatte nur sehr wenig geschlafen und bekam Probleme, vernünftig zu denken.
»Ist ja nicht so, dass ich nichts Besseres zu tun hätte, als zur Beerdigung deiner Großmutter zu gehen«, bemerkte Win.
»Ich bin müde«, sagte ich. »Können wir später darüber sprechen?«
»Klar«, sagte er. »Ich komme heute Abend vorbei. Falls ich das noch nicht richtig gesagt habe: Das mit deiner Großmutter tut mir unglaublich leid.« Er gab mir einen Kuss, aber keinen verführerischen, sondern einen zarten, sanften. Dann klingelte es, und er musste zur nächsten Stunde. Ich sah ihm nach, wie er über den karierten Boden des Speisesaals lief. Win hatte schmale Hüften und breite Schultern. Er bewegte sich anmutig, fast wie ein Tänzer. Von hinten fiel mir auf, wie sehr er noch Junge war. Ja, er war ein Junge. Er war nur ein Junge. Es würde nicht leicht sein, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich ihn aufgeben konnte, wenn es sein musste. Als Katholikin hatte ich früh gelernt, Verzicht als Teil meines Lebens zu betrachten.
»Anya Balanchine?« Jemand klopfte mir auf den Arm. Es war eine von Nattys Lehrerinnen. Ich selbst hatte sie nicht gehabt. Sie war noch neu, unterrichtete erst seit ein, zwei Jahren und versprühte diese übertriebene Begeisterung, die man vielleicht bei einer so unerfahrenen Lehrerin erwarten konnte. »Ich bin Kathleen Bellevoir! Ich hatte gehofft, Sie heute zu treffen! Haben Sie einen Moment Zeit, um über Ihre Schwester zu sprechen? Ich bringe Sie zu Ihrer nächsten Stunde!« Die Frau sprach jeden Satz mit Ausrufezeichen.
Ich nickte. »Sicher. Wenn Natty heute ein wenig unaufmerksam war, nun ja, wir hatten gerade einen Todesfall in der Familie und –«
»Das tut mir sehr leid, aber nein, alles andere als das. Ganz im Gegenteil sogar! Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil Natty sich so außerordentlich gut macht! Ihre Schwester ist begabt, Anya.«
Wie bitte? »Begabt? Welches Fach unterrichten Sie noch mal?«
»Mathematik«, erwiderte die Lehrerin.
»Mathe? Natty ist begabt … in Mathe?« Das war mir neu.
»Und in Naturwissenschaften, auch wenn ich sie da nicht habe. Hören Sie«, sagte Miss Bellevoir. »Darf ich Sie Annie nennen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»So nennt Natty Sie immer! Sie redet ununterbrochen von Ihnen!«
»Hm. Vielen Dank, dass Sie mir von Nattys Begabung erzählt haben«, sagte ich.
»Hören Sie, in Massachusetts gibt es ein Ferienlager für hochbegabte Kinder. Acht Wochen im Sommer. Für Natty wäre es eine Möglichkeit, mit anderen zusammen zu sein, die so sind wie sie. Sie braucht dafür einen Begleiter, und das würde ich gerne übernehemen.«
»Warum wollen Sie das
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