Bitterzart
entscheiden«, sagte ich. »Aber du musst mir solche Sachen in Zukunft erzählen, Natty! Besonders jetzt, da Nana tot ist. Ich weiß, ich bin nicht Nana, Mommy oder Daddy, aber ich tue mein Bestes.«
»Ich weiß, Annie. Ich weiß, was du alles für mich tust. Und für Leo. Ich wäre gerne schon älter, damit ich dir mehr abnehmen könnte. Wenn doch nicht alles so schwer für dich wäre!« Sie legte ihre schmalen Ärmchen um mich, und ich konnte nicht umhin, an das zu denken, was Miss Bellevoir über Natty gesagt hatte: dass sie etwas Kostbares sei, das geschützt werden müsse. In den letzten Monaten hatte ich mich ablenken lassen, das war inakzeptabel, besonders jetzt, da Nana tot war. Ich war für dieses Mädchen in meinen Armen verantwortlich. In diesem Moment traf mich die Gewaltigkeit dieser Aufgabe. Ohne mich würde Natty ihr Potential nicht ausschöpfen können. Sie mochte an schlechte Menschen geraten – wir waren weiß Gott von solchen umgeben. Ohne mich mochte sie sogar sterben. Oder, wenn auch nicht sterben, so würde sie sich am Ende vielleicht nicht so entfalten können, wie es theoretisch möglich war, und das konnte eine noch schlimmere Form von Tod sein. Ich zog meine kleine Schwester an mich. Mir war schwindelig, ich bekam kaum Luft und hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Mir war eng in der Brust, am liebsten hätte ich gegen die Wand geschlagen. Ich erkannte, dass es Liebe war, die ich empfand, und es war schrecklich.
Plötzlich musste ich mich tatsächlich übergeben. Ich ließ Natty los und lief den Flur hinunter ins Bad, wo ich es gerade noch zur Toilette schaffte.
Ungefähr zehn Minuten lang erbrach ich mich. Als es vorbei war, merkte ich, dass jemand mein Haar zurückhielt. Ich dachte, es sei Natty, doch als ich mich umdrehte, entdeckte ich Win. Ich hatte vergessen, dass er mit mir von der Schule nach Hause gekommen war.
»Oh«, sagte ich und drückte schnell ab. »Geh besser. Das ist zu ekelig hier.«
»Hab schon Schlimmeres erlebt«, sagte er.
»Wo ist Natty?«, fragte ich. Womit ich sagen wollte: Warum ist nicht sie hier und hält mein Haar nach hinten?
»Sie wollte Imogen anrufen.«
Angesichts meines letzten Gesprächs mit Imogen bezweifelte ich, dass sie kommen würde.
»Geh besser nach Hause«, sagte ich zu Win. »Ich möchte nicht, dass du dich bei mir ansteckst.«
»Ich werde nie krank«, entgegnete er. »Ich bin sehr widerstandsfähig.«
»Gratuliere«, brummte ich. »Würdest du bitte trotzdem gehen? Ich möchte lieber alleine krank sein, danke.« Ich erhob mich vom Badezimmerboden, etwas unsicher auf den Beinen. Win fasste mich am Ellenbogen und brachte mich zu meinem Zimmer.
Ich fiel aufs Bett und schlief ein.
*
Als ich erwachte, war Imogen bei mir. Sie hatte mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn gelegt.
Mein Kopf pochte. Meine Augen tränten, meine Sicht war verschwommen. Bunte Flecken schwebten durch das Zimmer. In meinem Magen rumorte die Säure. Meine Haut juckte wie verrückt. Ich fühlte mich, als hätte ich nicht mehr lange zu leben. »Liege ich im Sterben?«
»Du hast Windpocken, Annie. Natty wurde geimpft, aber Leo und du nicht, weil die Impfstoffe damals rationiert waren.«
(Hat jemand geglaubt, ich sei schwanger? Dass ich doch mit Win geschlafen hätte, ohne es zu erzählen? Das würde ich niemals tun. Anders als manche bin ich stolz darauf, eine sehr zuverlässige Erzählerin zu sein.)
»Vielleicht hast du dich auf der Hochzeit deines Cousins angesteckt?«, vermutete Imogen. »Ist dir dort jemand krank vorgekommen?«
Ich schüttelte den Kopf und wollte mich im Gesicht kratzen, doch Imogen hatte mir Handschuhe übergezogen.
»Ich kann jetzt nicht krank sein. Ich muss die Totenwache organisieren. Es ist noch so viel im Zusammenhang mit Nanas Tod zu regeln. Und mit der Schule. Natty und Leo brauchen mich. Und …« Ich setzte mich auf. Imogen drückte mich sanft, aber bestimmt wieder hinunter.
»Nun, das alles wirst du erst wieder frühestens nächste Woche machen können.«
»Warum bist du hier?«, fragte ich.
»Weil Natty mich angerufen hat.« Sie schob mir einen Strohhalm in den Mund. »Trink etwas.« Ich gehorchte.
»Nein«, sagte ich, »ich meine, warum bist du hier, obwohl ich so furchtbare Dinge zu dir gesagt habe?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte Zeit. Ich hab nämlich gerade meinen Arbeitsplatz verloren.« Erneutes Achselzucken. »Du warst durcheinander«, sagte Imogen dann. »Trink noch etwas. Du brauchst
Weitere Kostenlose Bücher