Bitterzart
sarkastisch. Es macht Ihnen Spaß, uns niederzumachen, nicht wahr? Ihnen gefällt das kleine bisschen Macht, das Sie haben. Sie spielen uns gegeneinander aus, um unsere Gunst zu gewinnen. Das ist armselig.«
»Sie benehmen sich unangemessen«, sagte er.
» Es ist nicht nur armselig, Sie sind armselig«, gab ich zurück.
Ich nahm meine Tasche und machte mich auf zum Büro der Rektorin.
Mr. Beery rief mir nach: »Sofort zur Rektorin!«
»Ich bin noch vor Ihnen da«, erwiderte ich.
Vielleicht hätte ich an dem Tag nach Nanas Tod doch nicht zur Schule gehen sollen.
Die Rektorin war aufgrund des Todesfalls in meiner Familie nicht so hart zu mir. Einen Tag Hausarrest. Das konnte man kaum als Strafe bezeichnen. Höchstens als Möglichkeit für mich, zu Hause zu entspannen. Wahrscheinlich hätte ich das eh machen sollen. Ich hatte mich den ganzen Tag über ziemlich schlapp gefühlt.
Natty, Scarlet, Win und ich fuhren mit dem Bus zu unserer Wohnung.
Natty trug Wins Mütze. »He«, sagte ich, »wusstet ihr eigentlich, dass wir ein Genie in unseren Reihen haben?«
»Nun, als Genie würde ich mich nicht gerade bezeichnen«, sagte Scarlet. »Auch wenn ich nicht dumm bin.«
»Du doch nicht«, erwiderte ich. »Natty.«
»Das glaube ich gern«, meinte Win. »Ihr Kopf ist fast so groß wie meiner. Guck mal, wie gut ihr meine Mütze passt.«
Natty schwieg.
»Auf welchem Gebiet bist du denn ein Genie, Kleine?«, fragte Win.
»In Mathe und so«, sagte Natty.
»Das wusste ich gar nicht«, bemerkte Scarlet.
»Das ist uns allen neu«, sagte ich.
»Na, dann: herzlichen Glückwunsch«, sagte Scarlet zu Natty.
Als wir nach Hause kamen, lief Natty in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Ich hatte keine Lust, ihr nachzugehen, tat es aber trotzdem. Ich drehte am Türknauf, doch er war verschlossen.
»Los, Natty, lass mich rein!«
»Warum hast du mich so bloßgestellt?«, rief sie durch die geschlossene Tür.
»Warum hast du nie erzählt, dass du ein Genie bist?«, rief ich zurück.
»Hör auf, mich so zu nennen!«
»Wie denn?«
»Genie!«
»Das ist doch kein Name. Das ist ein Kompliment. Sag schon, warum hast du es mir nicht erzählt? Warum musste ich das von einer dämlichen Lehrerin erfahren, die noch jünger aussieht als ich?«
»Miss Bellevoir ist nicht dämlich!«
»Stimmt, ich bin hier die Dumme. Ich hab nicht mal gemerkt, dass meine kleine Schwester hochbegabt ist.« Ich setzte mich draußen in den Flur vor Nattys Zimmer. »Ich kam mir so blöd vor, Natty. Es sah aus, als würde ich dich gar nicht richtig kennen oder mir nichts aus dir machen.«
Da öffnete sie die Tür. »Ich weiß, dass du dir was aus mir machst«, sagte sie. »Es ist bloß, weil … ich wusste ja gar nicht, dass ich so schlau bin. Ich dachte, alle wären wie ich. Bis Miss B. mir erklärt hat, dass das nicht so ist.«
»Und warum hast du es nicht erzählt, als du es dann wusstest?«
»Weil ich dir keine Sorgen machen wollte. Du warst gerade von diesem schrecklichen Liberty Island zurück. Ich wollte dir nicht noch mehr Probleme machen. Und du warst sooo verliebt in Win.«
»Aber dass du hochbegabt bist, wäre doch eine gute Nachricht gewesen, oder? Warum dachtest du, es wäre ein Problem?«
»Wahrscheinlich weil du immer sagst, dass wir in der Schule nicht auffallen sollen. Deshalb habe ich versucht, im Unterricht nicht so viel zu sagen. Ich melde mich nicht besonders oft. Meistens sage ich nichts, obwohl ich die Antwort weiß.«
»Soll das heißen, du hast versucht, dich dümmer zu stellen, als du bist?« Die Vorstellung, dass meine kleine Schwester sich angestrengt bemühte, durchschnittlich zu sein, war unglaublich bedrückend. Mein Schädel fühlte sich an, als drücke er von innen gegen meine Augen, ich barg ihn kurz in den Händen. »Aber Natty«, flüsterte ich, »das ist doch nicht richtig.«
»Es tut mir leid, Annie. Ich wollte dir nur helfen. Ich habe Miss B. gesagt, dass sie nicht mit dir reden soll. Dass es sinnlos wäre.«
Ich hob leicht den Kopf. Das Pochen hinter den Augen schien ein wenig nachgelassen zu haben. »Möchtest du denn gern in dieses Sommerlager fahren?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Natty. »Vielleicht.«
»Und was ist mit deinen Albträumen?«, fragte ich. »Ich könnte dich nicht begleiten, das weißt du. Ich kann Leo nicht allein lassen. Außerdem bin ich nicht gerade ein Genie.«
»Ich weiß nicht«, sagte Natty. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Na, das müssen wir ja nicht heute
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