Bitterzart
darauf gehört! Ich hätte einen Priester holen müssen. Das ist alles meine Schuld.«
»Annie«, sagte Mr. Kipling sanft, »deine Großmutter war nicht katholisch.«
»Aber ich!«, stöhnte ich. »Und ich will nicht, dass sie in die Hölle kommt!«
Mr. Kipling schwieg. Wir wussten beide, dass Nana in ihrem Leben einige schlimme Dinge getan hatte, es nutzte nichts, das zu verleugnen. Galina Balanchine hätte jede mögliche Unterstützung gebraucht, wenn sie eine Chance haben wollte, im Himmel zu landen.
Nachdem Nana zum Bestattungsinstitut in Brooklyn abtransportiert worden war und ich Leo und Natty Makkaroni vorgesetzt hatte, nachdem ich das Bett in Nanas Zimmer abgezogen und mit Mr. Kipling besprochen hatte, dass der Pool eine angemessene Örtlichkeit für Nanas Totenwache war, nachdem ich Natty hatte duschen lassen und sie ins Bett gebracht hatte, nachdem ich Leo ein Aspirin gegen die heftigen Kopfschmerzen gegeben hatte, die ihn zum Weinen gebracht hatten, nachdem ich gebetet hatte, dass seine Kopfschmerzen nicht zu einem Anfall führten, und selbst ins Bett gegangen war, nur um von Natty mit einem Albtraum geweckt zu werden, nachdem ich meine Schwester getröstet hatte und Leo nach mir rief, als ich wieder in mein Zimmer zurückwollte (ich sollte bitte nachsehen, ob Nanas Fenster geöffnet und ihre Tür geschlossen sei), nachdem ich ihm den Gefallen getan und ein zweites Mal zu Bett gegangen war, nachdem ich also das alles getan hatte, herrschte endlich Ruhe. Es war stiller, als ich unsere Wohnung seit Jahren erlebt hatte. Die Apparate, die Nana am Leben erhielten, hatten viel Lärm gemacht, doch ich hatte mich wohl irgendwie daran gewöhnt. Jetzt war es diese neue, sonderbare Stille, die mir laut vorkam. Da ich nicht mehr einschlafen konnte, stand ich auf und ging in Nanas Zimmer. Solange sie krank gewesen war, hatte es dort immer ein wenig säuerlich gerochen, jetzt lag kein Geruch mehr in der Luft. Wie schnell das gegangen war!
Der Raum war Daddys Büro gewesen, bevor Nana bei uns einzog. Ich glaube, das habe ich noch nicht erwähnt, aber es war das Zimmer, in dem Daddy ermordet worden war. Als meine Großmutter die erste Nacht bei uns verbrachte, nahm ich an, sie würde das ehemalige Schlafzimmer meiner Eltern beziehen, aber sie sagte mir, dass das zu meinem neuen Zimmer werden würde – bis dahin hatte ich mit Natty in einem Raum geschlafen –, sie würde Daddys Büro bewohnen. Obwohl ich erst neun Jahre alt war, fand ich es nicht richtig, dass sie dort schlafen sollte, wo ihr eigener Sohn ermordet worden war (auf dem Teppich waren immer noch Blutflecken!), deshalb sagte ich zu ihr, es sei kein Problem für mich, weiter bei Natty zu schlafen. »Nein, Anyeschka«, hatte sie gesagt. »Wenn wir dieses Zimmer nicht benutzen, wird es für alle Zeit der Raum sein, in dem dein Vater starb. Er wird zu einem Denkmal werden, wo es doch nichts anderes als ein Zimmer ist. Es ist keine gute Idee, sozusagen einen Sarg mitten in der Wohnung aufzustellen, mein Schatz. Außerdem bist du jetzt ein großes Mädchen, und ein großes Mädchen braucht ein eigenes Zimmer.« Damals verstand ich nicht so recht, was sie damit sagen wollte, ich erinnere mich sogar, dass ich sauer auf sie war. Daddy ist in dem Zimmer gestorben! , hätte ich am liebsten gesagt. Das muss man doch respektieren! Doch jetzt wurde mir klar, wie viel Kraft es sie gekostet haben musste, dort zu schlafen. Unser Vater war ihr einziges leibliches Kind gewesen: Auch wenn Nana sich nichts hatte anmerken lassen, musste sie getrauert haben.
Ich schaute auf Nanas Nachttisch und in die Schublade, um nachzusehen, ob sie mir einen Zettel hinterlassen hatte. Nichts als Tabletten und Imogens Ausgabe von David Copperfield .
Ich setzte mich auf die nackte Matratze, schloss die Augen und stellte mir vor, dass Nana sagte: Hol dir einen Schokoriegel und teile ihn mit jemandem, den du liebst. Ich schlug die Augen auf. Nie wieder würde das jemand zu mir sagen. Niemand würde mir etwas Süßes gönnen, einfach nur so. Niemand würde sich dafür interessieren, mit wem ich meine Schokolade teilte. Es war weniger Liebe in der Welt für mich als noch vor vierundzwanzig Stunden. Ich schlug die Hände vors Gesicht und bemühte mich, möglichst lautlos zu weinen – ich wollte meine Geschwister nicht wecken.
Nana hatte mich geliebt.
Sie hatte mich wirklich geliebt.
Und dennoch war ich erleichtert, dass sie tot war. (Als ich das begriff, musste ich nur noch heftiger
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