Bitterzart
tun?«
»Ich … Einfach weil ich an Natty glaube.«
»Was wollen Sie denn dafür haben?«, fragte ich. »Sie müssen doch etwas dafür haben wollen!«
Sie errötete. »Nein. Nichts! Ich möchte nur sehen, dass Natty so erfolgreich ist, wie sie es verdient.«
Ich konnte noch nicht einmal ansatzweise darüber nachdenken. Ich musste mich um die Totenwache für Nana, um den Sozialdienst und tausend andere Dinge kümmern.
Miss Bellevoir fuhr fort: »Ich habe Natty vor einigen Monaten für dieses Lager angemeldet.«
»Wie bitte?« Was glaubte diese Frau eigentlich, wer sie war?
»Ich entschuldige mich, falls ich zu weit gegangen bin. Ihre Schwester hat einen wirklich außerordentlichen Verstand, Annie. In all meinen Jahren als Lehrerin ist mir nichts Vergleichbares untergekommen.«
Wie lang das wohl gewesen war. Zwei Jahre?
»Ah, Sie glauben bestimmt, dass ich noch nicht sehr lange unterrichte. Dann zählen wir die Jahre hinzu, als ich selbst zur Schule ging. Natty könnte vielleicht diejenige sein, die das Wasserproblem löst. Oder sonst irgendwas. Alles Mögliche …« Sie seufzte. »Hören Sie, Annie, ich habe schon einen Grund, weshalb ich Ihrer Schwester helfen möchte. Einfach ausgedrückt, bin ich es satt, wie schlimm alles geworden ist. Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten sich nie gefragt, warum alles so ist, wie es ist. Warum wir all unsere Mittel darauf verwenden, unseren Mangel an Mitteln wettzumachen. Können Sie sich daran erinnern, wann das letzte Mal jemand in unserer Gesellschaft eine neue Idee hatte? Abgesehen von einem neuen Verbot, meine ich. Und wissen Sie, was mit einer Gesellschaft geschieht, in der alles veraltet? Sie verkümmert und stirbt. Wir leben im Mittelalter, und die Hälfte der Menschen scheint das nicht mal zu wissen. So kann es doch nicht ewig weitergehen!« Miss Bellevoir hielt inne. »Verzeihung. Wenn ich mich aufrege, gehen manchmal die Pferde mit mir durch. Ich will darauf hinaus, dass Natty jemand ist, dem wirklich alle Türen offen stehen. Köpfe wie ihrer sind unsere einzige Hoffnung, und als ihre Lehrerin würde ich meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich so ein Talent verkümmern lassen würde.«
Natty hatte immer gute Noten bekommen, aber das war doch lächerlich. »Wenn sie so außergewöhnlich ist, warum hat mir das dann noch keiner erzählt?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Miss Bellevoir. »Vielleicht war man eingeschüchtert von Ihrer Familie. Oder man sah Natty durch eine gewisse Brille.«
»Sie meinen, die Lehrer hatten Vorurteile?« Ich biss die Zähne aufeinander.
»Aber ich bin neu, ich sehe das unvoreingenommen. Und ich sage es Ihnen ja jetzt.«
Wir standen vor Mr. Beerys Klassenraum. Miss Bellevoir sagte, sie würde mir Informationsmaterial zukommen lassen. Sie war zwar eine Wichtigtuerin, aber ich kam zu dem Schluss, dass sie es gut meinte.
»Das muss ich noch besprechen mit meiner …« Fast hätte ich »Großmutter« gesagt. »Mit meinem Bruder und unserem Anwalt.«
»Natty sagt, Sie würden alle Entscheidungen im Familienrat treffen«, warf Miss Bellevoir ein. »Sie würden alle beschützen.«
»Sie soll so was nicht sagen«, bemerkte ich.
»Das muss eine große Belastung für eine einzelne Person sein«, meinte Miss Bellevoir.
Ehrlich gesagt, ärgerte es mich, dass einer Fremden, einer Außenstehenden, etwas an Natty aufgefallen war, das ich nicht gesehen hatte. Ich hatte das Gefühl, meine Schwester im Stich gelassen zu haben. »Wenn Natty so ein Genie ist, warum habe ich das dann noch nicht gemerkt?«
»Manchmal ist es schwer, Dinge zu sehen, die direkt vor einem sind«, antwortete Miss Bellevoir. »Aber ich sage Ihnen, Natty besitzt etwas sehr Wertvolles. Es muss gefördert und geschützt werden.« Sie drückte meine Hand. Dann blinzelte sie mir zu und nickte, als wären wir Verschworene.
Ich öffnete die Tür zum Klassenraum. Miss Bellevoir gab Mr. Beery ein Zeichen, damit er wusste, dass ich bei ihr gewesen war. Er nickte. »Wie freundlich von Ihnen, uns Gesellschaft zu leisten, Ms. Balanchine«, sagte er zu mir.
»Ich war bei Miss Bellevoir. Haben Sie das nicht gesehen?«
Er schwieg.
»Sie haben ihr doch gerade ein Zeichen gegeben«, sagte ich. »Sie müssen es also mitbekommen haben.«
»Es reicht, Ms. Balanchine. Setzen Sie sich!«
Anstatt mich auf meinen Platz zu setzen, ging ich nach vorn und schob mein Gesicht ganz nah an seins heran. »Sie haben es gesehen«, fuhr ich fort. »Sie sind bloß einfach gerne
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