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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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braunen Stoffhülle, wand sich dann schlingernd und nicht ohne Geschick aus dem unappetitlich aussehenden Haufen, und der Bassist machte wahrhaftig einen Schritt vor zum Ständer des Gesangsmikrofons und kündigte mit Rückkopplungspfeifen und schmachtend dunkler Stimme an:
    Â»Ladies and Gentlemen, Mesdames et Messieurs, Dirndl und Buam – aus der Scheiße ans Licht: Jenitzky!«
    Sándor war perplex, aber ja, wirklich, das war er, Jenitzky selbst, der sich da auf der Bühne zum Affen machte, jetzt hochaufgereckt in einem hellblauen Tuxedo im Spotlight stand und ein riesiges, grell glänzendes Saxofon schwenkte. Das Publikum war außer sich und donnerte mit den Bierseideln auf den Tischen den Takt, während das Bläsertrio seinem Boss musikalisch zu Hilfe kam und sich die Sängerinnen schmachtend mit ihren kokett herausgereckten Hinterteilen an den hellblauen Anzugstoff dieses Unterhaltungsmusik-Pavians schmiegten.
    Jedenfalls hatte der Mann keine Scheu vor dem Publikum, er stürzte sich rein ins Geschehen und sorgte eigenhändig dafür, dass jeder sich hier amüsierte – notfalls auf seine eigenen Kosten. Wenn Jenitzky ein Gangster war, dann war er der Clown unter den Gangstern, einer, der den Leuten die Pistole auf die Brust setzte und sie zum Lachen zwang. Eben hatte er noch auf der Bühne gestanden, jetzt eilte er von Tisch zu Tisch, schüttelte Hände, machte anzügliche Witze und verteilte Handküsse an die anwesenden Damen. Im Hinblick auf die Frauen hatte der Mann einen Ruf zu verlieren: »Das Haus der 100 schönen Frauen« hatte er sein Café mehr als einmal vollmundig in den Annoncen genannt, und es war ein humoristischer Höhepunkt des Abends, wenn er mit Monokel und Klassenbuch zwischen den Tischen hindurchwatschelte und – »achtundsechzig, neunundsechzig, det wird nüscht heute, ich kann den Laden zumachen, wir Deutschen sterben aus!« – nachzählte, ob er sein Versprechen auch diesmal wieder erfüllt hatte. Schonungslos wurden Mauerblümchen und ältere Jahrgänge mit »einhalb« oder »null Komma zwo« gezählt, während zartere Männer ohne Bart zum Gaudi der Kundschaft auch mal mit »fifty-fifty« zur Statistik beitragen mussten. Und selbstverständlich endete die Zählerei jedes Mal mit neunundneunzig, was das Publikum, das ab neunzig zum lautstarken Mitzählen animiert worden war, zu schallendem Gelächter und lautstarken »Frauen, Frauen!«-Sprechchören reizte.
    Â»Moment mal, Freunde!«, schrie dann Jenitzky durch das Inferno. »Wir haben eine übersehen! Die Schönste von allen, die Bluse, äh, Blume der Nacht, eine vollblonde naturschwarze Brünett-Grazie!« Das Licht ging aus, und ein fiebernder Scheinwerferfinger huschte von Tisch zu Tisch, erwischte knutschende Paare, errötende Fregatten, erboste Halbprominenz, die inkognito hier sein wollte. Das Publikum war hingerissen, gebannt, an den Saalrändern sprangen sie auf die Tische, um besser sehen zu können, wen, wen denn nur Jenitzky als vergessene Schönheitskönigin ins Visier nehmen wollte. Und schon wurde der Scheinwerfer zurückgerissen zum Moderator selbst, der sich im Schutz der temporären Dunkelheit eine blonde Zopfmähne aus Pferdehaar über den Kopf gestülpt und die dicken Lippen mit grellem Lippenstift beschmiert hatte. Mit einem Satz war der korpulente Mann auf dem nächsten Tisch, und man konnte sehen, dass nicht nur der bullige Kopf einer Maskerade unterzogen worden war – Jenitzky trug einen getigerten, eng anliegenden Rock mit opulentem Strassbesatz, der wild um seine haarigen Beine baumelte.
    In das einhellige Kreischen und Grölen des Publikums donnerte ein Trommelwirbel, das Bühnenlicht ging an – und die nächste Kapelle begann ihren lautstarken Auftritt.
    Sándor ächzte; hier war Julian Fuhs mit seinem Jazz der sanften Zwischentöne, der schwingenden Emotionen reichlich fehl am Platze. Was hatte den Bandleader geritten, sich unter diesen Knallchargen verheizen zu lassen? Aber Julian wusste, was er tat; vielleicht war es auch Jenitzky selbst, der seine oberflächlichen Krawallnummern in ein etwas gediegeneres Programm einbetten wollte und mit hochkarätiger Musik zurückgewinnen, was an Besuchern in die Tanzpaläste der westlichen Stadtteile um Tauentzien und Kurfürstendamm abgewandert war.
    Bislang war der Plan jedenfalls noch

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