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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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hatte sie »eine arge Hur« genannt, seine Frau sprach von ihr als »das Stück«. Heinrich schoss die Zornesröte in die Stirn, wenn er sich an die Auseinandersetzungen erinnerte. Sicher, der Altersunterschied war beträchtlich, und jeder reimte sich erst mal eine banale, geldgesteuerte kleine Romanze zusammen zwischen der Animierdame aus der Kakadu-Bar, Joachimstaler Straße 10, und dem erfolgreichen Romancier, der seine einsamen Abende nach der schweren Schreibarbeit unter den bunten Lampions des Etablissements verbrachte. Allerdings währte dieses Glück schon seit zwei Jahren, und wirklich erfolgreich war er damals gar nicht gewesen; der späte Ruhm kam erst jetzt mit dem Kinofilm. Nein, mit Nelly war es etwas Besonderes, sie hatte ihn umgekrempelt, ihn eine Spur wieder aufnehmen lassen, die er so lange Jahrzehnte verloren zu haben geglaubt hatte – die Spur des direkten, physischen Lebens, ein Mitfließen in der fließenden Menge, die ihn auch hier in der Buchabteilung von Karstadt so wunderbar umbrauste und umsprudelte.
    Sándor Lehmann genoss sein Bad in der Menge weit weniger, als er sich abends durch die Menschenmassen in der Friedrichstraße drängte. Wer dieses aufgekratzte Volk strömen sah, konnte kaum verstehen, warum die Friedrichstadt am Hungertuch nagte und ein Lokal nach dem anderen dichtmachen musste. Erst ein genauerer Blick offenbarte die ausgebeulten Hosen, die billigen Strassbroschen des Publikums, das hier im Gedränge ein flüchtiges Stück des Glanzes der Weltstadt erhaschen wollte, aber mit der dünnen Hand die paar Groschen in der Tasche gut festhielt, um weder einem Taschendieb zum Opfer zu fallen noch einer verlockenden Flasche Wein.
    Jenitzkys Café, das Sándor nach ein paar Minuten Schieberei endlich erreichte und durch die plumpen Drehtüren betrat, war ebenfalls gut gefüllt. Anders als in der Femina gab es hier keine livrierten Türsteher; wer hereinwollte, war willkommen und wurde durch ohrenbetäubenden Lärm unterschiedlicher Herkunft in die eine oder andere Ecke des weiträumigen Saales gerissen. Hier buhlten Animierdamen in einer getürkten Hafenkneipe um ein paar Drinks; dort schepperte auf einer Nebenbühne eine fragwürdige Kapelle die Gassenhauer der letzten Jahrzehnte, deren Publikumswirkung mit dem Aufkommen neuer Musik und neuer Tänze doch sehr gelitten hatte. An den wohl fünfzehn Meter langen Biertischen herrschte Gedränge; Kellnerinnen im knappen Dirndl schoben sich zwischen den Bänken durch. Die Damen mussten Oberschenkel aus Kruppstahl haben bei all den Kniffen und Tätscheleien, denen sie bei ihrer Arbeit mit dem vollen Tablett ausgesetzt waren. Immerhin ging das personalintensive Konzept auf, das billige Bier floss in Strömen, und auch wenn Jenitzky am einzelnen Maßkrug kein Vermögen machte: Er verkaufte eine ganze Menge davon.
    Es herrschte ein Mordsradau in der hohen, verräucherten Halle, und Sándor fragte sich, wie Julian und seine »Follies« gegen dieses Getöse anspielen sollten. Julians Fuhs’ sinfonischeren neuen Arrangements waren viel zu dezent; die gestopften Trompeten würden sie wohl aufmachen müssen und diesem bierseligen Fußvolk hier mit gepfeffertem Charleston und einem röhrenden Black Bottom gehörig den Marsch blasen.
    Allerdings tauchte jetzt auch schon eine Vorgruppe auf der großen, aber nicht tiefen Bühne auf; die dunkelbraunen Samtvorhänge mit den frivolen Goldstickereien fuhren zitternd auf, und die Persiflage einer Jazzband nahm Aufstellung – ein Schlag zeuger, drei Bläser, ein Bassist und drei sehr freizügig gekleidete Sängerinnen, die sich gleich ein schmetterndes Duett mit dem Bläsertrio lieferten, bei dem sie nur verlieren konnten. Gab es keinen Sänger, keinen Pianisten oder Bandleader? Doch, den gab es, einen dicken Mann mit Saxofon, der jetzt hinter dem Vorhang auftauchte und sich erst nur als gewölbte, zappelnde Form in dem schmuddeligen Samt abzeichnete. Das Publikum klatschte frenetisch Beifall; man schien die Nummer also schon zu kennen oder hatte davon gehört, und als erwartungsgemäß der große Vorhang am oberen Ende abriss – oder abzureißen schien, denn das dazugehörige Reißgeräusch machte der Bassist mit einer Glasscherbe auf den Saiten, nicht der Stoff –, kreischten alle begeistert auf. Der Dicke mit dem Saxofon tutete dumpf aus dem Dunkeln der

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