Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
Vom Netzwerk:
Leben gebeugt, aber nicht gebrochen – war eine zähe Frau, die arbeiten und zur Not auch kämpfen konnte, aber der Weißblechbaron war ein korpulenter, kräftiger Bursche, bei dem an ernsthaften Widerstand nicht zu denken war, und sie hatte nur die Zähne zusammengebissen und die Fäuste in seine Rockschöße verkrallt, als er über sie hergefallen war an einem hellen Aprilvormittag, als sie gar nicht mit ihm gerechnet hatte in der Zimmerflucht mit den großen Flügeltüren und den gebohnerten Böden, auf die sie fast ein bisschen stolz gewesen war. Nach der Sache hatte er wortlos die Hemdzipfel wieder in die Hose gestopft – hirschlederne Knickerbocker, in denen seine feisten Schenkel aussahen wie Leberwürste – und war hinausgegangen, ohne ein Wort an sie zu richten oder auch nur die Tür hinter sich zuzumachen.
    Die Lehmannsche hatte weiter die Charlottenburger Zimmerflucht geputzt; man wäre wahnsinnig gewesen, einen Arbeitsplatz aufzugeben, ganz gleich, warum. Der Vorfall hatte sich nicht wiederholt, als hätte der Weißblechbaron die scharf geschliffene Näherinnenschere geahnt, die sie seit diesem ersten und einzigen Mal unter ihrer Schürze versteckt hielt für den Fall, dass er noch einmal in ihre Nähe käme.
    Als das Kind unübersehbar unterwegs war – und sie wollte ihm den Triumph nicht gönnen, es wegmachen zu lassen –, hatte er sie vor die Tür gesetzt ohne ein Wort der Entschuldigung oder ein Handgeld, und als sie schweigend und mit geradem Blick vor ihm stehen geblieben war, hatte er ihr noch eine Ohrfeige mit auf den Weg gegeben.
    Die Lehmannsche kümmerte wenig, was die Leute über sie sagten und dachten, und sie erzählte jedem, der es hören wollte, dass der kleine Sándor ein Bankert war, einer, den ihr einer der hohen Herren ins Nest gelegt hatte – ins Nest geprügelt, um genau zu sein. Nicht sie, der Weißblechbaron musste sich schämen deswegen, und deshalb hatte sie den Sohn nicht Wilhelm oder August oder Josef genannt, sondern ihm den ungarischen Vornamen Sándor gegeben.
    Sándor war also vaterlos aufgewachsen, hatte sich seine männlichen Autoritäten selbst zusammengesucht in der Nachbarschaft: schlaksige Pickelgesichter, die den großen Gangster mimten; betrunkene Bierkutscher, die ihm fürs Fässerschleppen – nasskalte Holzfässer, aber auch moderne aus Weißblech! – ein paar kleine Münzen gaben oder einen Arschtritt; schwule Gigolos, die sich im Knast gegenseitig das Tanzen beigebracht hatten und jetzt drauf aus waren, ihr neu erworbenes Wissen im Frauenüberschuss in den Tanzlokalen zu Geld zu machen, und ständig »Frischfleisch« brauchten, um vorher in den Hinterhöfen zum Klang eines billigen Akkordeons die neuen Tänze einzustudieren; nur einen, nicht zehn Pfennig der Tanz, aber ja, auch für ihn, »Ten Cents a Dance«.
    Â»Sándor? Das klingt wie’n Putzmittel«, hatten die Spottdrosseln in der Grundschule befunden, »aber deine Mutter ist ja auch ’ne Putze.« Das gab Keile.
    Seitdem hatte Sándor sich mehr und mehr mit dem ungewöhnlichen Vornamen abgefunden; schließlich gab es hier in Berlin bei vier Millionen Menschen eine unüberschaubare Zahl an Vornamen, und es war besser, einen ungarischen Vornamen zu haben als gar keinen – was man, beispielsweise, Jenitzky nachsagte. Das war vermutlich Unsinn, aber Sándor hatte eigenhändig im neuen Personenregister nachgesehen, das sie bei der Kriminalpolizei anlegten, und dort hatte zu seiner Verblüffung wortwörtlich »Jenitzky, vermtl. Theodor (?), evtl. August« gestanden. Ja, der Mann war eine Legende; Sándor konnte es kaum erwarten, den vermutlichen Theodor und eventuellen August in diesem für ihn etwas ungewohnten Revier unter die Lupe zu nehmen.
    Es konnte eigentlich ein sehr unterhaltsamer Abend werden; auch die kleinen Wortgefechte mit Bella hatten einen Unterton, der ihn amüsierte und reizte. Wenn nicht das Problem gewesen wäre, seine Doppelrolle zu spielen – die lästige Verabredung um neun Uhr, für die er hier auf seinem Plüschsessel im Moka Efti noch keine Lösung gefunden hatte und keinen erkennbaren Ausweg.

MASSEN
    Am Nachmittag hatten ganz ähnliche Massen, wie sie jetzt in der lauen, weichen Abendluft die Friedrichstraße fluteten, den Hermannplatz in Neukölln bevölkert. Da war seit Tagen

Weitere Kostenlose Bücher