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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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unfällig den falschen Schnurbart aus der Jackentasche und klebte sich das alberne Ding wieder unter die Nase. Die Maskerade konnte einem zur zweiten Natur werden. Er sah sich nicht mehr um, sondern tauchte ohne Zögern in die Massen ein und durchquerte den Saal zielstrebig in einer geraden Linie zur Bühne. Sein entschlossener Schritt teilte die Menge; hinter ihm schloss sich die Menschenwand wieder; vorne tanzten falsche, sehr nackte Indianerinnen einen grotesken Stammestanz, der eben zu Ende ging.
    Die Indianerinnen wurden mit geheimnisvollem Flackerlicht beleuchtet, das an den Schein von Lagerfeuer erinnern sollte und den vorderen Bühnenrand im Dunkeln ließ. Doch Sándor hatte bei ihrem Auftritt Bellas schweres Kondensatormikrofon aus dem Mikrofonständer genommen und am Bühnenrand abgelegt; jetzt ging er vor der Bühne in die Hocke, schaltete das Gerät auf Empfang und brüllte mit pfeifender Falsettstimme:
    Â»Freibier für alle, Leute. Außer für die Scheiß-Bayern!«
    Die laute Ansage zeitigte sofortig Wirkung. Das dreihundertköpfige Publikum brüllte zwei genau gegensätzliche, vielkehlige Schreie. Einen Schrei begeisterter Zustimmung, dem ein sofortiger Aufbruch zu den am Eingang gelegenen Bars folgte. Und ein etwas leiserer, aber ungleich inbrünstigerer: die blanke Wut des bayrischen Teils der Anwesenden, die sich empört vom angekündigten Freibier ausgeschlossen sahen und nun wutschnaubend nach vorn zur Bühne wollten, um ihr Recht zu fordern.
    Beide Gruppen prallten in der Saalmitte aufeinander und behinderten sich gegenseitig auf ihrem Weg, und beide Gruppen griffen nach allem, was sie an Stühlen, Flaschen und Tischen zu packen bekamen, und prügelten aufeinander ein. Im selben Augenblick platzten die Drehtüren am Eingang auf, und auch aus den Seitentüren strömten Uniformierte in den Saal, die mit Trillerpfeifen und Schlagstöcken Ordnung schaffen wollten, stattdessen hineingerissen und überrollt wurden und in kürzester Zeit selbst in der Defensive waren.
    Belfort steckte mit seinen Leuten im vorderen Eingangsbereich fest. Sándor hatte sich vor der Bühne erhoben; er spurtete seitlich zum Büroaufgang, wo eben Jenitzky, vom Krawall alarmiert, schnaufend die Stufen herunterkam. Der vermutliche Theodor und eventuelle August sah den großen Mann mit dem monströsen Schnurrbart auf sich zustürmen und ging unwillkürlich in Abwehrhaltung, doch Sándor rief ihm zu: »Polizeirazzia, schlagen Sie mich nieder, Mann – und dann ab durch die Bierrutsche!«
    Jenitzky hatte einen mächtigen, unförmigen Körper, aber einen äußerst beweglichen Geist – und er setzte Erkenntnisse geradlinig um, ohne zu zögern. Er überblickte das wütende Gerangel im Saal, studierte kurz Sándors bestimmtes, selbstbewusstes Gesicht, holte dann aus und traf die rechte Schläfe seines Gegenübers mit einer solch unerwarteten Härte, dass Sándor, der sich auf den Schlag vorbereitet hatte und der Faust in allerletzter Sekunde noch einige Zentimeter ausweichen wollte, die Augen zu schmalen, wütenden Schlitzen zusammenkniff. Das Lagerfeuerlicht von der Bühne funkelte wie ein Feuerwerk, und die Schwärze des Bodens kippte nach oben. Er fiel um.

BLACKOUT
    Â»Hier können Familien Kaffee kochen«, stand auf dem Schild des Ausflugslokals an der Panke, und 1909, als Sándor zwölf war, hatte seine Mutter ihn sonntags mal fein gemacht, also Opas Fliege umgebunden, ein viel zu großes Ding mit etwas fadenscheinig gewordenen Ecken, aber aus Damaszener Seide, hatte ihm die widerspenstigen blonden Kraushaare mit Wasser an den Kopf gedrückt und war mit ihm hingegangen. Bis dahin hatte er das Schild nur täglich auf dem Schulweg bestaunt; »Familien« und »Kaffee kochen«, das waren gleich zwei Festungen gutbürgerlichen Lebens, die ihm bisher eher verwehrt geblieben waren.
    Seine Mutter hatte sich nach seiner Geburt nur zwei, drei Tage ohne Arbeit erlauben können, dann schleppte sie sich wieder zu ihren vielfältigen Hilfsarbeiten, schlug sich durch, so gut es ging. Dass das mit einem kleinen Kind am Bein eher schwerer war als davor, ließ sie Sándor nie merken; er war ihr Gefährte an den langen Abenden in der dunklen Hinterzimmerwohnung, wenn sie in der Stube das Petroleum fürs Licht sparten und am offenen Fenster in den Abendhimmel träumten. Ferne Länder,

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