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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Schützengräben und wurden erschossen oder erstickten an den langen Gasfahnen aus Lost und Phosgen, die über die Ebene wehten. Dann hatte der Wind gedreht – das kam an der Westfront häufig vor, und wie oft hatten sie schon die Wahnsinnigen verflucht, die überhaupt bei einem Kampf Richtung Westen Gaseinsätze anordneten, wo an neun von zehn Tagen Westwind herrschte? Unversehens wehten zu ihnen selbst Gaswolken herüber, und es waren nicht die Briten, die zurückschossen, sondern ihr eigenes Gas. Sándor hatte gegen jede Regel (»Vertraue deiner Maske; sie schützt dich zuverlässig auch in stundenlangem Kampf«) die verdammte Gasmaske vom Kopf gerissen, die alleine schon ein Gefühl von Ersticken vermittelte, und war gerannt, so schnell er konnte, aber Ausläufer der verfluchten Wolke hatten ihn eingeholt, ein bunter Mix aus allem, was drüben noch nicht von britischen Mäulern eingeatmet worden war. Laufen und Kotzen gleichzeitig, panisches Vorwärtsstolpern und hektisches Nach-hinten-Blicken, verzweifelte Sprünge über zusammengebrochene Kameraden und wutschnaubende Vorgesetzte, die mit der Pistole in der Hand ihre Truppe zusammenhalten und die Fliehenden zwingen wollten, ihre Masken aufzusetzen und zu bleiben und zu kämpfen. Vor einem kleinen Fluss in einer Senke war die Luft so voller Gas, dass Sándor den Eindruck hatte, wie ein Ertrinkender unter Wasser in einem sauerstofflosen Fluidum nicht mehr atmen zu können, sich in einer erdfernen, unwirklichen Welt zu befinden, in einer Welt ohne Luft, milchig gelb durchwolkt, einer Welt, in die man nur kam, um zu sterben. Er taumelte mit ein paar letzten Schritten durch den knietiefen Fluss, schwankte eine Anhöhe am anderen Ufer hi nauf, brach zusammen und – atmete.
    Wahrscheinlich hatte die aufsteigende Feuchtigkeit des Flusses die Gasmoleküle gebunden oder hinaufgerissen, eine feuchte, dünne Barriere geschaffen zwischen ihm selbst und dem Tod.
    Der Kurfürstendamm mit seiner lärmenden Präsenz riss Sándor Lehmann aus seinen alten Angstträumen. Er lehnte keuchend an einer gusseisernen Laterne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und angelte in seinem Trenchcoat nach einem Taschentuch, ohne eines zu finden. Doppelstöckige Pferdedroschken klapperten vorbei, die Straßenbahnen in der Mitte des Boulevards bimmelten, und am Café des Westens jagten ein paar Kellner einen Zechpreller vor die Tür. Die Trottoirs waren voller Menschen, die Pakete trugen oder Hunde an der Leine führten; in Trauben standen sie vor den Litfaßsäulen; Ausrufer priesen die Tageszeitungen an, und zwei Leierkastenmänner, einer mit einem winzigen lebendigen Affen auf dem Mahagonikasten, wetteiferten lautstark um die Aufmerksamkeit der Passanten. Die Automobile kamen zwischen Radfahrern, Pferdefuhrwerken und Fußgängern kaum voran, doch da raste schon – Sándor erkannte die Kollegen aus der Keithstraße – ein Polizeiauto heran mit gellendem Martinshorn, vor dem die Leute erschreckt auseinanderspritzten, und Sándor, der wieder auf den Beinen war, rempelte sich durch eine Gruppe von Schaulustigen, trat auf die Fahrbahn und stoppte das Fahrzeug. Der Verschlag ging auf, Sándor enterte das Wageninnere und fuhr mit.
    Â»Kollegen, was liegt an?« Die Männer sahen finster aus dem Fenster, und während Pohlmann, der Fahrer, die Sirene auf dem Fahrzeugdach noch mit wildem Fluchen und Hupen unterstützte, brummte der lange Baum neben ihm nur: »Gas, ein Gasangriff, vorn im Uhlandeck beim Juden Goldstaub.«
    Sich umblickend, bemerkte Sándor, dass sich hinter ihnen noch weitere Einsatzfahrzeuge den Ku’damm hinaufkämpften, zwei Polizeiwagen, die Feuerwehr. Hatte er den Gaskrieg nur Revue passieren lassen, um jetzt in einem ganz ähnlichen Albtraum wieder aufzuwachen? Führte Jenitzky, dieser irrsinnig gewordene Höllenhund, seinen eigenen Gaskrieg gegen die missliebigen Konkurrenten der ganzen Stadt? Das Uhlandeck war ein mondäner, expressionistischer Kaffee-und-Kuchen-Tempel, Salonmusik wurde dort geboten, kein Jazz. Was hatte der Inhaber Goldstaub Jenitzky getan? Sollte eine Gasattacke auf diesen offensichtlichen Nicht-Konkurrenten noch einmal gründlich vom Nachtclub-Fürsten aus der Friedrichstadt ablenken, bevor der Mann seinen eigenen Laden ins Visier nahm?
    Doch dann hielt das Polizeiauto an der Ecke Uhlandstraße bei einer aufgeregten

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