Black Bottom
Kampfgeist wieder erwachte und sie gerade wegen seines Widerspruchs fest entschlossen waren, bei Jenitzkys Kapellenwettbewerb dabei zu sein und den »Goldkübel«, wie Lewitsch den auf dem Plakat abgebildeten Siegerpokal liebevoll nannte, nach Hause zu bringen â nicht obwohl, sondern eben weil sie Juden und Jazzer und weiÃe Niggermusiker waren, die sich von den Nazis nicht verjagen lieÃen, sondern das Publikum, die Kritik und überhaupt die Gunst der Stunde auf ihrer Seite wähnten.
Ein letztes Mal wagte sich Sándor ein paar Meter vor, er erinnerte an den Gasangriff auf die Femina, sprach von Risiko, von Vorsicht.
»Zur Vorsicht könntet ihr Gasmasken aufsetzen, Jungs«, ulkte Bella, und trotz allem, was er letzte Nacht mit der lebensdurstigen Sängerin erlebt hatte â für einen Moment schoss ihm die Erinnerung an ihren weichen, elastischen Leib durch den Kopf, das langsame Atmen, ihr Zittern â, trotz allem hasste er sie fast. Ein bisschen. Gar nicht.
Also lieà er sie gewähren und beschloss, da zu sein und die Band keine Sekunde aus den Augen zu lassen; die Band nicht, Jenitzky nicht. Und Bella auch nicht.
»Gasmasken! Da müsstet ihr die Trompeten gleich vorne an die Filter schrauben, Freunde ⦠ihr würdet wie die Elefanten aussehen, bisher klingt ihr nur so!«, stichelte Arno bei den Blechbläsern, und alle lachten erleichtert. Der Auftritt war abgemacht. Der Angriff auf die Femina lag weit zurück, und Gas â das war ohnehin nichts, woran man sich gern erinnerte.
Auch Sándor selbst hatte mit Gas nicht erst in der Femina Bekanntschaft gemacht, und auch er erinnerte sich nicht gern daran. Als er nach dem Treffen im Romanischen Café noch einen Bummel den Kurfürstendamm hinauf machte, hatte er â vielleicht durch Bellas scharfzüngigen Scherz mit den Gasmasken â die Bilder des Gaskriegs wieder vor Augen, und binnen Sekunden fühlte seine Zunge sich geschwollen und belegt an, und die Augen brannten. Der Gaskrieg! An der Westfront gegen Ende des Kriegs war er mitten hineingeraten; damals hatte es ein irrwitziges Experimentieren mit immer neuen Kampfstoffen gegeben, und wie all die geheimen Rezepturen der deutschen Chemieindustrie wirkten, wie hoch sie konzentriert waren und wie sie zu handhaben waren, das hatten sie selbst als einfache Soldaten längst nicht mehr gewusst. Um nicht jedem Schützen ein Chemiediplom abverlangen zu müssen, waren die Gifte in den kleinen und groÃen Granaten schlicht mit Farben markiert worden; es gab Grünkreuz, Gelbkreuz, Blaukreuz â und, wenn man Glück hatte, noch ein Kreuz auf dem Soldatenfriedhof, wenn ihre geschundenen Kadaver dort jemals hinkommen sollten. »BuntschieÃen« war die Parole, das klang nach Schützenfest, nach Feiertagsballerei, aber das Konzept hinter dem abwechselnden Einsatz der verschiedenen Granatenfarben war mörderisch. Blaukreuzgranaten â Clark 1 und 2, Diphenylarsinchlorid und -cyanid â machten den Anfang; das Zeug war schwer und zäh und nicht so windanfällig. Es drang durch jede noch so kleine Ritze, und wer es auch in niedrigster Konzentration einatmete â und das geschah trotz Gasmaskenfilter immer â, wurde von fürchterlichem Brechreiz geschüttelt und riss sich binnen Sekunden kotzend die Gasmaske vom Kopf. Genau das war der Sinn des Einsatzes; als »Maskenbrecher« bereiteten die deutschen Blaukreuzgranaten die jungen Briten drüben auf der anderen Seite der Schützengräben auf die anderen Gifte vor, die schon in der Luft waren; die einschlugen, während sie noch würgend nach Luft schnappten. Grünkreuz wurde tonnenweise in die Ebene gepumpt; Diphosgen, das bei der Detonation in die doppelte Phosgen-Dichte zerfiel, eine tödliche Konzentration, die in jeden Aushub, jede Erdhöhle sickerte, die stundenlang Tod und schlimmste Lungenschäden verursachte. Dazwischen Gelbkreuzgranaten, die mit Senfgas oder »Lost« ein neuartiges Kontaktgift verschossen, das durch die Kleider drang, über die Haut aufgenommen wurde, gegen das es keinen Schutz gab und das selbst Monate nach den Kämpfen im Winter 1917 noch im gefrorenen Boden steckte und im Frühjahr erneut Tod und Verderben brachte, als das Eis schmolz.
Am Anfang hatte ihr Angriff drüben auf der britischen Seite schlimme Verheerungen angerichtet, die Briten kotzten sich die Seele aus dem Leib, sprangen aus den
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