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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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des Namens Jenitzky, der belegte, dass der ermordete Türsteher als letzte Notiz seiner letzten Schicht unmittelbar vor dem Gasangriff ganz offensichtlich eine Beobachtung festgehalten hatte, die mit dem Kneipenboss in Zusammenhang stand. Jenitzky ahnte sicherlich nichts von diesem Beweisstück, doch wenn er davon erfuhr, würde ihm sofort aufgehen, wie wertvoll die Kenntnis dieses Notizbuchs für einen Erpresser sein könnte – und wie belastend in den Händen jedes Richters. Er würde das Buch haben wollen, um jeden Preis, und wenn es einen Mitwisser gab, einen kleinen Polizisten, der von dem Eintrag wusste, dann war es besser, seinem Vergessen etwas nachzuhelfen. Dauerhaft nachzuhelfen, nicht etwa mit einem freundlichen und womöglich regelmäßig gezahlten Geldbetrag, sondern mit seinem vernickelten Single Action Colt von 1888, einem monströs wirkungsvollen Stück Handfeuerwaffe, das Jenitz ky der Legende nach immer irgendwo in Reichweite hatte. Genau in diesem Augenblick würden sie den Kerl an der Gurgel haben, genau diese Falle würde den alten Sack ans Messer liefern.
    Sándor wartete. Belfort schwieg eine Weile, dann sagte er mit einem trotzigen Unterton, der gut zu seinem verbiesterten Pausbackengesicht passte, nur:
    Â»Das könnte klappen.«
    Eine halbe Stunde später hatte man ihnen Hallsteins blutbeflecktes Notizbuch aus der Asservatenkammer heraufgebracht, und Sándor wählte mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Grimm die Fernsprechernummer eines vermutlichen Theodor, angeblichen August Jenitzky, eines mutmaßlichen Gasmörders, der nur noch überführt werden musste.
    Im Nachhinein rief Sándor sich dieses Telefonat, dieses kurze Gespräch, immer wieder ins Gedächtnis, jedes Wort davon. Eine unspektakuläre, knappe Abmachung unter Männern; die Erwähnung eines Notizbuchs, eines Namens, eines Besitzers. Die Vereinbarung eines Ortes, einer Zeit. Keine Abschiedsworte. Wenn das Fräulein vom Amt mitgehört hätte, ihre wäre nichts Ungewöhnliches aufgefallen an diesem Gespräch, aber Sándor – der Mann ohne Intuition – konnte auf die Mikrosekunde genau den Zeitpunkt nennen, an dem die oberflächliche Freundlichkeit, die Gelassenheit ihrer Konversation einen ganz kleinen, irrationalen Sprung bekommen hatte wie ein winziger Riss am Rand einer Schelllackplatte, der die Materialspannung für immer veränderte, und den Unterschied zwischen einem Tonträger mit Klang und einer bedeutungslosen Scherbe ausmachte. Jenitzky hatte das Gespräch mit einem Kronprinzen, einem Hoffnungsträger begonnen – und mit einem verlorenen Sohn beendet. Und weil er so ein Meisterblender war, so ein verdammt smarter Hund, hatte er den Übergang vom einen zum anderen, die kleine Millionstel-Schrecksekunde, so gekonnt überspielt, dass niemand mit weniger feinem Gehör etwas gemerkt hätte. Erpressung, das Wort fiel nicht, aber genau das hatte stattgefunden, und als Jenitzky begriff, worauf die Sache hinauslief, war alles anders, für immer. Noch bei ihrem Ausflug schien er für seinen Schutzengel, der ihn vor der Razzia gewarnt hatte, beinahe die Fürsorge eines Vaters empfunden zu haben – von jetzt an wünschte er Sándor nur eins: den Tod.
    Nach Tod, nach tausendfachem Tod roch es in der Eldenaer Straße auch, oder eigentlich nach dem vergehenden Leben, der Auflösung von Muskelfasern, Knochen und Eingeweiden in der Kuttelwäscherei und der Talgschmelze. Der Zentralviehhof war ein gigantischer Umschlagplatz für Schlachtprodukte aller Art; ein Stadtteil im Stadtteil, zwischen Friedrichshain und Prenzlauer Berg gelegen. Und was für Tausende Rinder, Schweine und Hammel den unbarmherzigen, routiniert ausgeführten Tod bedeutete, gab Hunderten Menschen dafür sichere Arbeit selbst in den jetzigen Krisenjahren. Wer die Arbeiter in einer Pause an der Ecke zusammenstehen sah oder in der Kantine beim Mittagstisch beobachtete, meinte unwillkürlich, einen Trupp schwedischer Reiter, archaischer Landsknechte vor sich zu haben. Ellbogenlange Kettenhandschuhe trugen die Schlachter zu ihren blutbespritzten und schwarz getrockeneten Kitteln und Schürzen; seltsam klobige Polsterung und dicke Filzkappen umhüllten die Männer, die drüben an den Bahngleisen in dem erst letztes Jahr gebauten, 5.000 Quadratmeter großen Kühlhaus arbeiteten.
    Das Zuführen der Tiere über die

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