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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Ellbogen schnellt hoch und knallt deutlich hörbar gegen eine knochige Augenhöhle. Sie stößt einen Schrei aus, und wir fallen beide zu Boden, Tante Mandy auf mich drauf. Ihr Kinn kracht mir gegen die Stirn. Ein scharfer Schmerz durchfährt mich, und ich schreie laut auf. Ihre Zähne schlagen aufeinander, sie schnappt nach Luft, und ihr Griff lockert sich. Ich springe auf, und fast wäre ich frei gekommen, doch sie hält mich mit beiden Händen am Gummizug meiner Shorts fest.
    »Himmelherrgott, hör jetzt endlich auf!« Mein Gesicht glüht, mir ist entsetzlich heiß. »Nein! Nein, ich geh nicht zurück, lass mich los!« Ich werfe mich nach vorne und sprinte los wie ein Läufer, der sich vom Startblock abstößt, und plötzlich rase ich, so schnell ich kann, den Pfad hinauf, während sie noch hinter mir herschreit. »Homer! Homer, komm auf der Stelle zurück!« Ich habe es fast bis Lincoln Street geschafft, als ich auf einmal einen kühlen Luftzug zwischen den Beinen spüre und mir klar wird, wie ich entkommen konnte: Sie hat mich an den Shorts festgehalten, und bei meinem Ausbruch sind sie einfach runtergerutscht – die Shorts, meine Mark-McGuire-Unterhose, alles. Ich betrachte meine Männlichkeit, die rosa und glatt und klein zwischen meinen Beinen hin und her schlenkert. Bei diesem Anblick überkommt mich auf einmal ein unerwartetes Hochgefühl.
    Auf halber Strecke zum Auto holt sie mich schließlich ein. Eine Menschenmenge sieht zu, wie sie mich an den Haaren zu Boden zieht und wir dort miteinander ringen.
    »Halt still, du blöder Scheißkerl!«, kreischt sie. »Du verrücktes kleines Arschloch!«
    »Fette Nutte!«, brülle ich zurück. »Kapitalistischer Schmarotzer!«
    Na ja, nicht ganz. Aber so ungefähr.
     
    Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht hat das, was im Wheelhouse Park passiert ist, das Fass zum Überlaufen gebracht, denn zwei Wochen später, als unser Team einen spielfreien Tag hat, fahren meine Eltern und ich nach Vermont, um uns ein Internat namens Biden Academy anzusehen. Das war Moms Idee. Sie erklärt mir, es sei eine Preparatory School, aber ich habe die Broschüre gesehen, die voller entlarvender Begriffe war: besondere Bedürfnisse, stabiles Umfeld, gesellschaftliche Normalität … Ich weiß also genau, was für eine Schule wir uns da ansehen!
    Ein junger Mann in abgetragenem blauen Hemd, Jeans und Wanderschuhen kommt uns auf den Stufen des Hauptgebäudes entgegen. Er stellt sich als Archer Grace vor. Er gehört zur Verwaltung und wird uns herumführen. Die Biden Academy liegt in den White Mountains. Die Brise, die durch die Kiefern rauscht, ist ziemlich frisch, und obwohl es erst August ist, hat der Nachmittag etwas Aufregendes, Kühles, ähnlich wie bei der World Series. Mr. Grace schlendert mit uns über den Campus. Wir bewundern ein paar mit Efeu bewachsene Backsteingebäude und werfen einen Blick in ein leeres Klassenzimmer. Wir schreiten durch einen Vortragssaal, der mit dunklem Holz getäfelt und mit schweren purpurroten Vorhängen verhängt ist. Auf einer Seite des Raumes steht eine Büste von Benjamin Franklin aus milchig hellem Marmor, auf der anderen eine Büste von Martin Luther King aus dunklem Stein, der aussieht wie Onyx. Ben glotzt den Pfarrer böse an, und King sieht so verquollen aus, als sei er gerade erst aufgewacht.
    »Geht das nur mir so, oder ist es hier drin wirklich ziemlich stickig?«, fragt mein Vater.
    »Bevor das Herbstsemester beginnt, wird noch ordentlich gelüftet«, erwidert Mr. Grace. »Außer den Kindern, die am Sommerunterricht teilnehmen, ist im Augenblick niemand hier.«
    Wir spazieren noch ein wenig draußen herum und gelangen schließlich in einen Hain mit riesigen Bäumen. Ihre Rinde ist grau und sieht glitschig aus. An einem Ende des Hains liegt ein halbrundes Amphitheater mit stufenförmig angelegten Sitzen, wo die Abschlussfeiern stattfinden und manchmal auch Theaterstücke und Shows für die Kinder.
    »Was riecht denn hier so seltsam?«, fragt mein Vater.
    Meine Mutter und Mr. Grace tun so, als hätten sie ihn nicht gehört. Mom stellt eine Reihe von Fragen über das Schülertheater – als wäre mein Vater gar nicht da.
    »Was sind das für wundervolle Bäume?«, fragt sie, als wir den Hain wieder verlassen.
    »Ginkgobäume«, erwidert Mr. Grace. »Wussten Sie, dass es auf der ganzen Welt keinen Baum wie den Ginkgo gibt? Er stammt von einer uralten prähistorischen Baumart ab, die inzwischen völlig verschwunden ist.«
    Mein Vater

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