Black Dagger 09 - Seelenjäger
Directrix einem eine Aufgabe zu erledigen gab. Und man wartete mit Würde und Geduld und Verständnis, denn sonst gereichte man der Gesamtheit der Tradition, der man diente, zur Schande. Hier war keine Schwester mehr wert als die andere. Als Auserwählte war man Teil eines Ganzen, ein einzelnes Molekül unter vielen, die gemeinsam einen funktionsfähigen spirituellen Korpus
bildeten … sowohl von entscheidender Bedeutung als auch restlos unwichtig.
Wehe also der Vampirin, die in ihren Pflichten versagte, auf dass sie nicht die anderen befleckte.
Heute jedoch brachte das Warten eine unausweichliche Last mit sich. Cormia hatte gesündigt und erwartete ihre Strafe voller Furcht.
Lange Zeit hatte sie sich gewünscht, dass ihr ihre Transition gewährt würde, hatte insgeheim ungeduldig darauf gewartet, wenn auch nicht zum Wohle der Auserwählten. Sie hatte sich gewünscht, vollständig als sie selbst verwirklicht zu werden. Sie hatte sich gewünscht, eine Bedeutung in ihrem Atem und ihrem Herzschlag zu spüren, die ihr als Individuum im Universum zukam, nicht ihr als einer Speiche in einem Rad. Sie hatte geglaubt, ihre Wandlung sei der Schlüssel zu dieser persönlichen Freiheit.
Erst kürzlich war ihr die Wandlung endlich gestattet worden, indem sie eingeladen wurde, vom Becher im Tempel zu trinken. Anfangs war sie in Hochstimmung gewesen, da sie annahm, ihre geheimen Sehnsüchte wären unentdeckt geblieben und würden sich dennoch erfüllen. Doch dann folgte die Strafe.
Mit einem Blick an ihrem Körper herab gab sie ihren Brüsten und ihren Hüften die Schuld für das, was ihr geschehen würde. Gab sich selbst die Schuld dafür, etwas Besonderes sein zu wollen. Sie hätte bleiben sollen, wie sie war.
Der dünne Seidenvorhang vor dem Durchgang wurde beiseitegezogen und die Auserwählte Amalya, eine der persönlichen Attendhentes der Jungfrau der Schrift, trat ein.
»Und so soll es geschehen«, sprach Cormia und ballte ihre Hände so fest zur Faust, dass die Knöchel schmerzten.
Amalya lächelte milde. »So sei es.«
»Wie lange noch?«
»Er kommt nach dem Abschluss der Eremitage Ihrer Heiligkeit. «
Aus Verzweiflung fragte Cormia das Undenkbare. »Kann nicht eine andere von uns berufen werden? Es gibt einige, die es sich wünschen.«
»Du wurdest erwählt.« Als Tränen in Cormias Augen stiegen, kam Amalya auf sie zu, ihre nackten Füße machten kein Geräusch. »Er wird sanft zu deinem Leib sein. Er wird …«
»Das wird er nicht. Er ist der Sohn des Kriegers Bloodletter. «
Amalya zuckte zurück. »Was?«
»Hat es dir die Jungfrau der Schrift nicht erzählt?«
»Ihre Heiligkeit sagte nur, die Vereinbarung würde mit einem der Brüder getroffen, einem Krieger von Wert.«
Cormia schüttelte den Kopf. »Ich habe es erfahren, als sie das erste Mal zu mir kam. Ich dachte, alle wüssten davon.«
Amalyas Besorgnis ließ Falten auf ihrer Stirn erscheinen. Ohne ein Wort setzte sie sich auf die Pritsche und zog Cormia in ihre Arme. »Ich möchte das nicht«, flüsterte Cormia. »Vergib mir, Schwester. Aber nicht das.«
Amalyas Stimme klang nicht überzeugt, als sie sagte: »Alles wird gut werden … bestimmt.«
»Was geht hier vor?« Die scharfe Stimme riss die beiden brutal auseinander.
Im Türrahmen stand die Directrix, ihr Blick war misstrauisch. Mit einem Buch in der einen und einer Schnur Gebetsperlen in der anderen Hand gab sie das perfekte Bild der Bestimmung und Berufung der Auserwählten ab.
Rasch stand Amalya auf, doch der Augenblick konnte nicht geleugnet werden. Als Auserwählte hatte man sich zu jeder Zeit seinem Status gemäß zu verhalten; alles andere wurde als irrige Abweichung betrachtet, für die man Buße tun musste. Und sie waren ertappt worden.
»Ich werde jetzt mit der Auserwählten Cormia sprechen«, verkündete die Directrix. »Allein.«
»Ja, natürlich.« Amalya ging mit gesenktem Kopf zur Tür. »Wenn ihr mich entschuldigen wollt, Schwestern.«
»Du wirst dich zum Sühnetempel aufmachen, nicht wahr.«
»Ja, Directrix.«
Cormia kniff die Augen zu und betete für ihre Freundin, als sie ging. Ein ganzer Zyklus in diesem Tempel? Man konnte durch den Reizentzug verrückt werden.
Die Worte der Directrix waren knapp. »Ich würde auch dich dorthin schicken, gäbe es nicht Dinge, denen du dich zu widmen hast.«
Cormia wischte sich die Tränen ab. »Ja, Directrix.«
»Du wirst deine Vorbereitung damit beginnen, das hier zu lesen.« Das ledergebundene Buch landete auf dem Bett.
Weitere Kostenlose Bücher