Black Dagger 09 - Seelenjäger
drehte er sich wieder zu seinem Vater um, der ihn eingehend betrachtete.
»Was sagte der Junge über deine Augen?«, murmelte der Bloodletter. »Ich glaube, ich habe etwas gehört.«
»Er sagte: ›Dein Auge … dein Auge … was ist geschehen?‹«, erwiderte V ohne jede Gemütsregung.
In der darauf folgenden Stille tropfte Blut aus Vs Nase und rann ihm warm und träge über die Lippen und das Kinn. Sein Arm schmerzte von den Hieben, die er ausgeteilt hatte, und sein Kopf tat weh. Nichts von alldem kümmerte ihn jedoch. Er verspürte eine überaus eigenartige Kraft.
»Weißt du, warum der Junge so etwas sagen sollte?«
»Das weiß ich nicht.«
Er und sein Vater starrten einander an, während sich immer mehr Schaulustige versammelten.
An niemanden im Besonderen gerichtet sagte der Bloodletter: »Mir will scheinen, dass mein Sohn gerne liest. Da ich wünsche, mit den Vorlieben meines Nachwuchses vertraut zu sein, möchte ich in Kenntnis gesetzt werden, falls jemand ihn dabei beobachtet. Ich würde es als persönlichen Gefallen betrachten, mit dem eine beachtliche Gunst verknüpft wäre.« Vs Vater wirbelte herum, packte eine Frau um die Hüfte und schleifte sie auf das Hauptfeuer des Lagers zu. »Und jetzt wenden wir uns der Körperertüchtigung zu, meine Soldaten! Folgt mir!«
Ein stürmischer Jubel erhob sich aus der Mitte der Vampire und die Menge zerstob.
V sah ihnen allen nach und stellte fest, dass er keinen Hass empfand. Üblicherweise ließ er, wenn sein Vater ihm den Rücken kehrte, seiner Abscheu freien Lauf. Doch nun war da nichts. Es war wie vorher, als er die Bücher betrachtet hatte. Er empfand … nichts.
Dann blickte er auf den jungen Vampir herab, den er besiegt hatte. »Wenn du dich mir jemals wieder näherst, werde ich dir beide Arme und Beine brechen und dafür sorgen, dass du nie wieder gesund wirst. Hast du mich verstanden?«
Der Junge lächelte, obgleich sein Mund so angeschwollen war wie nach einem Bienenstich. »Und was, wenn ich zuerst durch die Wandlung gehe?«
V stützte die Hände auf die Knie und beugte sich herunter. »Ich
bin meines Vaters Sohn. Daher bin ich zu allem in der Lage. Ungeachtet meiner Größe.«
Die Augen des Jungen weiteten sich, da die Wahrheit ohne Zweifel deutlich zu erkennen war: So empfindungslos, wie V nun war, gab es nichts, was er nicht erdulden, keine Tat, die er nicht vollbringen, keine Mittel, die er nicht freisetzen konnte, um sein Ziel zu erreichen.
Er war, wie sein Vater immer gewesen war: nichts als seelenlose Berechnung, umhüllt von Haut. Der Sohn hatte seine Lektion gelernt.
12
Als Jane das nächste Mal zu sich kam, tauchte sie aus einem Furcht einflößenden Traum auf, in dem etwas, das es überhaupt nicht gab, sich gesund und munter im selben Raum mit ihr befand: Sie sah die scharfen Fangzähne ihres Patienten im Handgelenk einer Frau versenkt, und er trank aus ihrer Vene.
Die verschleierten, unsortierten Bilder ließen sich nicht verscheuchen und versetzten sie in Panik, wie eine Decke, die sich bewegt, weil etwas darunter ist. Etwas Gefährliches.
Vampir.
Normalerweise ließ sie sich nicht schnell einschüchtern, aber als sie sich jetzt langsam aufsetzte, hatte sie Angst. Ein Rundblick durch den spartanischen Raum verriet ihr, dass der Entführungsteil schon mal kein Traum gewesen war. Aber was war mit dem Rest? Sie war nicht sicher, was real war und was nicht, denn ihr Gedächtnis wies zu viele Lücken auf. Sie erinnerte sich daran, den Patienten operiert zu haben. Erinnerte sich auch, ihn auf die Intensivstation
verlegt zu haben. Erinnerte sich, dass die Männer sie entführt hatten. Aber danach? War alles verschwommen.
Als sie tief einatmete, roch sie Essen und sah, dass ein Tablett neben ihrem Sessel stand. Sie hob einen silbernen Deckel hoch … Gütiger, das war aber ein schöner Teller. Imari, wie das Porzellan ihrer Mutter. Stirnrunzelnd nahm sie zur Kenntnis, dass sich darauf eine Feinschmecker-Mahlzeit befand: Lamm mit kleinen neuen Kartoffeln und Sommerkürbis. Ein Stück Schokoladenkuchen und ein Krug mit einem Glas standen daneben.
Hatten diese Kerle nur so aus Jux auch gleich noch Wolfgang Puck entführt?
Sie schielte zu ihrem Patienten hinüber.
Im Schein einer Nachttischlampe lag er still auf einem schwarzen Laken, die Augen geschlossen, das schwarze Haar auf dem Kissen ausgebreitet, die Schultern unter der Decke hervorlugend. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig, das Gesicht hatte etwas Farbe angenommen,
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