Black Jesus
seine Umrisse unter der Decke – wie ein Körper auf einer Bahre. Die Sonnenbrille sitzt unverrückt, auf ihrem Pullover fliegen Gänse.
»Bist du sicher, dass dir auch wirklich warm genug ist?«
»Mir geht’s gut.«
»Ich kann noch eine andere Decke holen, falls …«
»Mir geht’s gut.«
»Willst du deinen Babar?«
»Er ist doch nur ein ausgestopfter Elefant, Ma.«
»Das weiß ich. Willst du ihn?«
»Nein, lass ihn ruhig auf dem Stuhl.«
Seine Mutter beobachtet seinen Mund. Er ist älter. Er ist anders. Es ist der Mund, der im Schmerz nach ihr schrie – dort drüben im trockenen blonden Sand, eine halbe Welt entfernt, in einer Stadt, von der man noch nie gehört hatte, in einem alten Land, das laut aufstöhnt, um das Stöhnen des Windes in seinen Ruinen zu übertönen. Jetzt ist es der Mund eines Blinden. Der Mund eines Überlebenden – und in seinen Konturen ist nichts mehr von dem kindlichen Staunen, das für immer verloren ging.
»Dann gute Nacht.«
»Gute Nacht, Ma.«
Aber sie kommt einfach nicht hoch aus dem tiefen Loch, das sie in die Matratze gesessen hat. Noch nicht.
»Ich steh jetzt auf.«
»Okay.«
»Wirklich.«
Die Frau beugt sich nach vorne und kommt auf die Füße. Sie atmet noch einmal tief durch, streckt ihren Arm und schaltet das Licht aus. Dann fährt sie im Dunkeln mit ihren Fingern an der Seite seines billigen Bettes entlang, vorbei an der dünnen Decke. Unschlüssig bleibt sie stehen. Dann dreht sie sich um und geht zur Leiter.
Diesmal ist er es: »Ma?«
»Was ist?«
»Ich hab jemanden gesehen.«
Debbies Hände umklammern die oberste Sprosse, ihr Körper ist im Raum darunter verschwunden. »Was soll das heißen?«
»Ich hab jemanden gesehen.«
»Wo?«
»Als sie mich in die Luft gejagt haben.«
Schweigen auf der Leiter. Ein plötzlicher Schmerz, der durch ihren Körper fährt. Ihr wird heiß im Pullover. Nur eine Frage fällt ihr auf die Schnelle ein: »War es ein Freund?«
»Es war ein Mädchen.«
Stille auf der Leiter. Atmen.
»Eher eine Frau«, sagt er.
»Eine der Einheimischen dort?«
»Nein.«
»Dann gehörte sie bestimmt zu den Marines. Eine Krankenschwester?«
»Nein. Es war anders.«
Debbie wartet. Und sagt dann: »Was hast du sonst noch gesehen?«
Er liegt im Bett, in seiner ganz privaten Dunkelheit, und dreht die Frage langsam um, als sei sie eine Spielkarte. »Nur das Mädchen in dieser irren Sonne«, sagt er. »Der Staub und die rote Sonne, und sie tanzten. Sie tanzten.«
Debbie atmet tief. »Black Jesus?«
»Was?«
»Hat sie einer von den anderen Jungs auch gesehen?«
»Ich glaub nicht. Ich war wohl der Einzige.«
Was sagt man dazu, Debbie? Was zum Teufel sagt man da bloß? »War sie das Letzte, was du gesehen hast?«, hört sie sich fragen.
»Ja.«
»Dann sieh zu, dass du sie nicht verlierst.«
Schweigen vom Bett. Dann: »Okay, Ma, aber ich gewöhn mich langsam daran.«
»Woran?«
»Dass die Sachen verschwinden«, sagt er. Und er sieht, wie ihn seine blassen blauen Augen – die Augen, die er sein ganzes Leben lang gehabt hat – an einem Weihnachtsmorgen im Spiegel des Badezimmers ansehen.
Irgendwann in der Nacht wacht der Soldat auf und kriecht aus dem Bett. Mit seiner langen Unterhose steht er mitten in dem winzigen Raum, balanciert auf seinen Fersen und lauscht den Geräuschen seines neuen Heims. Der Armseligkeit der ländlichen Stille. Dem Summen und Brummen. Ein riesiger Truck auf der Umgehungsstraße, schon ist er wieder weg. Er hat die Hände weit ausgestreckt und greift im Dunkeln nach etwas, vielleicht ist es eine dieser mexikanischen Piñatas, die in ihrem Bauch ein anderes Schicksal versteckt hat, das seins hätte sein können, wenn er nur etwas vorsichtiger gewesen wäre. Aber zum Teufel mit der Piñata. Es gibt nun mal kein Was-wäre-wenn, und das zähnefletschende Räderwerk dieser Welt hat für Vorsicht nur ein kaltes Lächeln übrig. Außerdem will er eh nur Babar zu sich holen. Er findet ihn, in sich zusammengesackt, auf dem Klappstuhl an der Wand und trägt ihn zu seinem Bett.
Black Jesus ist ein Killer.
Er kam 1988 zur Welt.
Er zittert.
Elefanten vergessen nie.
Black Jesus ist schüchtern. Und ein Killer.
Black Jesus ist so weiß wie eine Taube.
Gloria
GLORIA
Der Highway zeigt nach Osten. Weiter und immer wei ter, bis der schwarzblaue Himmel über der Tiefebene die ersten Strahlen des Morgengrauens verspricht. In einem Feld, fünf Kilometer entfernt, steht ein Wasser turm. Von der Straße her kann das
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