Black Monday
ertönt erneut Gerards Stimme.
25. KAPITEL
11. Dezember. 13 Uhr 49. 44 Tage nach dem Ausbruch.
Widerwillig legt Gerard das Mikrofon weg. Am liebsten würde er nicht aufhören, seine Kinder zu warnen, bevor er sie hundertprozentig in Sicherheit weiß, aber er muss aus der Hütte verschwinden, ehe Bartholomew Young ihn dort findet.
Draußen wird es allmählich dunkel. Die Stille, die einsetzt, nachdem die Lautsprecher verstummt sind, ist überwältigend.
Gerard tritt ins dichte Schneegestöber hinaus. Sein Plan ist etwas plump, aber bei den schlechten Sichtverhältnissen könnte er funktionieren, denkt er. Er rammt seine Skier in eine Schneewehe neben der Tierpflegerstation, dann drapiert er den Parka darüber, so dass das Ganze aussieht wie eine Vogelscheuche. Wer den Weg entlangkommt, wird die »Schulter« eines Mannes sehen, der hinter der Hütte steht. Da der Kopf der Vogelscheuche von der Hütte verdeckt wird, ist es nicht nötig, ihr einen Hut aufzusetzen.
Jag mich, betet Gerard. Lass meine Kinder laufen.
Die Walther fühlt sich schwer und unangemessen an in seiner Hand. In geduckter Haltung geht er hinten um die Hütte herum, überquert den kleinen Platz am hinteren Rand und steigt durch das zerschlagene Schaufenster in den Panda Store. Von hier aus müsste er jeden sehen, der den Platz betritt. Da er immer ganz dicht an Gebäuden entlanggelaufen ist, werden seine Fußspuren für niemanden sichtbar sein.
Während er hinter der Kasse hockt und nach draußen späht, starren ihn von hinten Hunderte schwarzer Augenpaare an – von Plüschaffen, Plüschottern, Plüschpinguinen.
Der Wind pfeift durch die kahlen Baumkronen.
Vielleicht sollte ich lieber nach Bartholomew Young suchen.
Dann nimmt er auf dem Olmsted Walk eine Bewegung wahr. Eine in dem grauen Licht schwer auszumachende Gestalt nähert sich der Hütte. Gerard hebt seine Pistole.
Dann hält er den Atem an. Das Gepardenjunge ist gewachsen, seit er es das letzte Mal gesehen hat, es ist jetzt fast so groß wie ein erwachsenes Tier. Dünn, aber größer, geschmeidig in den Schulterblättern. Die Raubkatze würdigt ihn keines Blickes.
Sieh mal einer an! Annie hatte recht, denkt er, ganz der stolze Vater, während er dem Tier nachschaut, als es hinter der Hütte verschwindet. Dann, als er den Kopf wieder wendet, flucht er innerlich, denn erst jetzt entdeckt er die menschliche Gestalt, die auf die Station der Tierpfleger zuschleicht und sich dabei am Panda Store entlangdrückt. Vor lauter Nervosität bewegt Gerard sich zu schnell. Er richtet die Walther nach links, aber der Mann muss ihn gehört oder gespürt haben, denn er wirft sich seitlich in den Schnee, bevor Gerard abdrückt. Schüsse krachen über den Platz.
Vielleicht hab ich ihn getroffen, denkt Gerard, als die Gestalt wie ein Tier auf allen vieren flüchtet.
Doch dann ruft ihm eine Stimme aus dem verschneiten Picknickbereich auf der anderen Seite des Olmsted Walk etwas zu. Der Mann klingt alles andere als verwundet.
»Ich muss mit Ihnen reden, Dr. Gerard.«
Die Stimme klingt milde, vernünftig, die akzentfreien Worte schweben wie Schnee aus dem Halbdunkel.
»Sir? Ich habe Ihre Kinder.«
Gerard packt die Angst, aber er antwortet nicht. Der Mann versucht herauszufinden, wo er sich befindet. Lügt er? Gerard hat plötzlich einen Geschmack im Mund wie von rostigem Eisen. Die rhythmischen Hiebe gegen sein Brustbein fühlen sich an wie von einem Baseballschläger. Aber es ist nur sein Herz.
»Dieser Paulo! Ein sehr mutiger Junge«, sagt die Stimme.
Die Stimme scheint sich zu bewegen, von links nach rechts, aber es schneit zu heftig, als dass Gerard etwas sehen könnte. Deshalb widersteht er dem Impuls, zu schießen. Wie oft hat er abgedrückt? Zweimal? Das Magazin hat sechzehn Patronen. Aber war es auch wirklich voll? Wenn er es herausnimmt, um nachzusehen, könnte Young das Klicken hören.
»Ihre Annie ist ein widerspenstiges Mädchen, Gerard.«
Gerard bewegt sich ebenfalls, robbt im Souvenirladen drei Meter nach links, bis er hinter umgeworfenen Regalen auf Glasscherben liegt. Vor seinem Gesicht liegen lauter Plüschgiraffen.
»Die armen Kinder! Sie liegen gefesselt am Boden und werden bald von Schnee bedeckt sein.«
Gerard stellt sich vor, wie seine Kinder unter einer Schneedecke verschwinden. Das würde der Mann nicht tun, sagt er sich, er würde die Kinder nicht einfach fesseln und im Schnee liegen lassen. Das wäre unmenschlich. Doch dann erinnert er sich an die Fotos von der
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