BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
können momentan eine wenigstens temporäre Stromversorgung organisieren. Sei es durch funktionierende Kraftwerke in ihrem Einzugsbereich oder aus anderen Gründen. Wie Sie sehen können, sind sie über das ganze Bundesgebiet verteilt. Zurzeit haben dadurch etwa zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung zeitweise Zugriff auf lebenswichtige Strukturen. Trotz zusammengebrochener Kommunikationssysteme wird sich diese Tatsache herumsprechen. In der Folge werden immer mehr Menschen aus den unversorgten Gebieten versuchen, in diese Oasen zu gelangen. Im besten Fall finden sie Unterschlupf bei Verwandten oder Freunden. Viele andere werden auf der Straße stehen. Die betroffenen Gebiete werden diesen Ansturm allein nicht bewältigen können. Bald wird es zu Auseinandersetzungen zwischen Ansässigen und Flüchtlingen kommen. Wir müssen diese Gebiete möglichst schnell auf diesen Ansturm vorbereiten, vor allem aber verhindern, dass er zu einem nicht bewältigbaren Strom anschwillt.«
Michelsen musste an die Asylanten- und Zuwandererdebatte denken, die Deutschland seit Jahren bewegte. Auf einmal bekam diese einen ganz neuen Aspekt. Sie war gespannt, wie lange unter diesen Umständen die Geduld der Einheimischen mit den Flüchtlingen aus dem eigenen Kulturkreis währte. Was würde geschehen, wenn sich die Eigenheimbesitzer von den Flüchtlingsmassen bedroht sahen? Wenn jene auf den Notmatratzen in den Zeltstädten nach einigen Tagen neidisch auf die schmucken Häuschen mit eigener Toilette und Dusche zu schielen begannen. Wenn die Zahl der Flüchtlinge jene der Einheimischen irgendwann deutlich überstieg?
»Ich dachte«, wandte der Außenminister ein, »zahlreiche Gemeinden wären inzwischen energieautark. Manche produzieren doch sogar schon mehr Strom, als sie selbst verbrauchen.«
»Da ist der Wunsch leider Vater des Gedankens«, sprang Staatssekretär Rhess ein. »Erstens sind nur wenige Gemeinden wirklich energieautark. Die meisten, von denen man liest, haben die Programme erst begonnen oder sind nur teilautark. Außerdem, und das ist entscheidend dabei: Energieautark bedeutet in praktisch allen Fällen keine physische Unabhängigkeit, sondern nur eine rechnerische. Diese Gemeinden erzeugen zwar vielleicht mehr Strom, als sie selbst verbrauchen. Das heißt, sie müssen im Normalbetrieb von niemandem mehr Strom kaufen. Aber sie speisen den von ihnen erzeugten ebenso ins reguläre Netz ein, an dem sie weiterhin hängen. Sobald also dieses Netz ausfällt, nützt ihnen ihre ganze Energieproduktion nichts, da sie kein stabiles Netz im Kleinen etablieren können. Auf diese Mini-Insellösungen ist die herrschende Netzstruktur nicht ausgelegt.«
»Das heißt, die könnten zwar Strom produzieren, ihn aber nicht an die Verbraucher verteilen?«, fragte der Minister ungläubig nach.
»Genau das heißt es. Dasselbe gilt für die Großkraftwerke«, bestätigte Rhess. »Aber wir haben Sie unterbrochen, Kollege Viehinger. Bitte fahren Sie fort.«
»Selbstverständlich wurde für alle Sicherheitsbehörden ein Urlaubsstopp verhängt. Trotzdem werden wir Unterstützung von Staatspolizei und Bundeswehr brauchen.«
»Zivil oder auch militärisch?«, fragte die Umweltministerin.
»Den Anforderungen entsprechend«, antwortete der Innenminister knapp.
»Danke für Ihre Ausführungen«, warf der Bundeskanzler ein. »Der Herr Innenminister erklärte mir gerade, dass wir noch nicht fertig sind. Deshalb schlage ich eine kurze Pause vor. Vertreten wir uns die Beine und machen wir in zehn Minuten weiter.«
Unter allgemeinem Rascheln erhoben sich alle, die Raucher eilten zu den Fahrstühlen, um ins Freie zu gelangen. Nur zum Mobiltelefon griff niemand, wie es die Vielbeschäftigten in einem solchen Moment getan hätten, fiel Michelsen auf. Dass die Mobilfunknetze nicht mehr funktionierten, hatten mittlerweile alle begriffen.
»Was meinst du?«, flüsterte ihr Torhüsen zu.
»Sie stehen unter Schock, würde ich sagen«, erwiderte Michelsen ebenso leise.
Die Mitglieder des Kabinetts und die Ministerpräsidenten standen mit ernsten Mienen in Gruppen beisammen und diskutierten, manche ruhig, manche geradezu aufgebracht. Michelsen hörte Begriffe wie »Notstandsgesetze« und »Spannungsfall«.
Paris
Natürlich hatte kein Taxi angehalten. Shannon war quer durch die Stadt gelaufen, über die Ile de la Cité bis zum Gare du Nord, wo die Busse abfuhren. Straßenlaternen, Verkehrsampeln und die Beleuchtung vieler Gebäude waren ausgefallen. Das
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