Blätter treiben im Wind (German Edition)
doch nicht nötig gewesen, Onkel, sagte sie, wie jedes Jahr. Aber noch nie war es so nötig wie in diesem Jahr, dachte ihr Onkel. Sie hob den Deckel des Kartons an – und er kam zum Vorschein: der dunkelbraune Rucksack, den sie auch zwanzig Jahre später noch über der Schulter tragen sollte. Ihr Onkel sagte, dass sie darin alles Schöne, Geheimnisvolle und Wichtige aufbewahren sollte. Er hatte dem Rucksack etwas von seiner Magie übertragen. Noch verstand Donna nicht ganz, doch bald würde sie verstehen. Sie presste den Rucksack ganz fest an sich und freute sich aus tiefsten Herzen. Sie küsste ihren Onkel. Es sollte der letzte Kuss sein. Donna reiste nach zwei Wochen ab. Prächtige Märsche durch die Berge Virginias, das Reiten der Pferde, Streicheln der Schafe und Melken der Kühe wurden ihr zuvor geschenkt.
Danach kehrte sie nie wieder zurück.
Die folgenden Jahre vergingen so langsam wie ein brennend heißer Sommer in Texas. Ihre Eltern waren noch schlimmer als je zuvor. Was in diesen Jahren in ihre Seele eingebrannt wurde, veränderte ihr ganzes Leben. All ihr Tun und Denken wurde bestimmt durch die schrecklichen Vorfälle in diesen Jahren. Sie wurden verübt, von Menschen, die sie lieben und ihrem Leben einen Sinn geben sollten. Sie entzogen ihr die Liebe so heftig, wie ein Tornado, und entrissen ihr den Sinn, ein Leben, so wie sie es führte, fortzusetzen. Ein Wink des Schicksals bewahrte sie vor dem endgültigen Ende.
Mit achtzehn war sie dann so weit. Die kurze Zeit auf dem St. Joseph’s College in Brooklyn, New York nutzte sie intensiv, um ihrem Traumberuf ein Stück näher zu kommen. Sie interessierte sich ausschließlich für Psychologie. Später einmal Menschen helfen und ihr Wissen weitergeben zu können, das wollte sie aus tiefstem Herzen. Sie konnte es nicht verwirklichen. Es war die Zeit zu gehen – untertauchen für immer. Verschwinden aus diesem Leben mit ihren Begleitern. Sie hatte bis jetzt nie erfahren dürfen, was ein schönes Leben war. Doch das würde sich jetzt ändern, dachte sie.
Sie ließ alles hinter sich und zog mit wenig Geld die Ostküste auf- und abwärts. Sie verweilte nur kurz an jedem Ort. Sie verdiente sich ihr Geld in Portsmouth, Virginia, Virginia Beach, Baltimore, Philadelphia, bis sie vom Küstenort New Bedford, Massachusetts nach Boston gelangte. Dort gefiel es ihr. Sie blieb. Zu Anfang nur einige Monate, doch daraus wurde ein Jahr und nun war es fast schon ein Jahrzehnt. Es begann mit der Liebe zu den vielen Grünflächen. Ob das die zauberhaften Seenlandschaften der Back Bay Fens waren – die den poetischen Namen Emerald Necklace, smaragdgrüne Halskette, trugen –, wo sie ganz in der Nähe Jahre später arbeiten würde. Oder der Boston Common und der Public Garden, dort schwelgt sie nur zu gern auch heute noch in Erinnerungen an Virginia und die Farm ihres Onkels, oder der manchmal rau und dann wieder sich fein wie eine Dame gebende Charles River, der Boston in zwei Hälften teilte. Dort wo sie immer gern dazugehören wollte, zur Wiege der geistigen Elite, dem Spielplatz der Forschernaturen, kann sie heute nur bei ihren zahlreichen Besuchen sehnsüchtig hinterher blicken. Die Harvard University wäre ihr Ziel gewesen, doch bereits bei ihrer Geburt wurde ihr Leben von anderen in die falsche Bahn gelenkt. Sie hatte den Ehrgeiz, doch der alleine reichte im amerikanischen Bildungssystem nicht aus. Boston konnte auch hart zu ihr sein. Die ersten Jahre schlug es ihr immer wieder ins Gesicht, doch sie behauptete sich. Sie hielt sich mit einigen Jobs über Wasser; Kellnern in den Citycafès, Drecksarbeiten beim Boston Globe und nochmals – nachdem sie sich geschworen hatte, sie würde es nie wieder tun – mit Tanzeinlagen in Clubs, bei denen sie viel Haut zeigen musste. Dann leuchteten die Sterne über Jahre hinaus nur für sie. Donna hatte eine spät entdeckte Gabe in die Wiege gelegt bekommen. Sie konnte aus verschwindend geringen, eigentlich unbeachteten, einfachen Wörtern Texte mit viel Emotion schreiben. Sie gründete mit einem Freund, den sie zwischen den Anfeuerungsrufen zur Charles River Regatta kennen gelernt hatte, eine eigene Produktionsfirma. Er verlieh ihren Balladen den Klang und die Melodie. Beide ergänzten sich, so wie der Baum und das Blatt. Ihr Erfolg ging über die Grenzen New Englands hinaus. Sie stürmten mit einem Song, den sie für ihren Onkel, Virginia und die Liebe geschrieben hatte, sensationell in die Top 100 der Staaten. Es war ihr
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