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Blätter treiben im Wind (German Edition)

Blätter treiben im Wind (German Edition)

Titel: Blätter treiben im Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Dengler
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Aus dieser Haft will ich entfliehen, jetzt, wo ich Dir schreibe, und ich weiß, dass Du nie lesen wirst, was meine Herz, meine Gedanken, mein Ich mir befahl auszusprechen: Ich liebe Dich, jetzt und für alle Ewigkeit.
     
     
     
    T.
     
     
    Donna Parrish weinte wieder. Nur Einzelne sahen zur ihr herüber, wie sie das Gras mit ihren Tränen tränkte. In einem Augenblick nachdenklich, im anderen überglücklich sah sie in die Gesichter der Menschen und der Natur. Die Natur erwiderte ihr Lächeln, die Menschen nicht. Nur wenige würden nachempfinden können, was sie gerade fühlte.
    Sie faltete den ausgedruckten Brief wieder sorgsam zusammen und steckte ihn in ihren Rucksack. Ihre Freundinnen fragten sie immer, warum sie dieses alte hässliche Ding nicht endlich in den Müll gebe. Sie musste Michelle und Anne in ihrer feinen Garderobe dann immer belächeln. Sie konnte mit ihnen gut über alltäglichen Klatsch reden, doch wirklich wichtige Dinge ließ sie weiter in ihrem Herzen schlummern. Ihr dunkelbrauner, mit hellen Ziernähten abgesetzter und über die Jahre hinweg reichlich zerknitterter Rucksack war etwas, über das sie nicht sprechen wollte. Es war ein Geschenk ihres Onkels, der in einer Person mehr Familie darstellte, als ihre leiblichen Eltern das jemals getan haben.
    Donna streifte mit den Händen über das Gras und freute sich immer wieder daran, wie viele Zufälle es doch auf einmal brauchte, damit solch ein Glücksfall eintrat. Das Gras kitzelte auf ihren Handflächen. Diesen Brief dort zu finden, war eigentlich nicht möglich. Sie suchte etwas Bestimmtes, und fand dies: Worte der Liebe, des Herzens, der Sehnsucht und des Schmerzes. Sie kannte all diese Empfindungen nur zu gut. Oft traf sie der spitze Pfeil des Schmerzes, die lastenden Stunden der Sehnsucht, das dramatische Pochen des Herzens. Nur Worte der Liebe durfte sie bis jetzt nie vernehmen. Natürlich, das ein oder andere wurde ihr schon gesagt – es entsprach aber nie der Wahrheit. Einmal fühlte sie das Glück, welches durch Liebe entstand, doch andere Mächte hatten Einwände gegen eine Verbindung fürs Leben. Vielleicht war es besser so, denn er sagte nie: Ich liebe Dich! Mit diesem Satz versuchte sich Donna dann immer zu trösten, aber es gelang nur selten. Sie nahm lange Zeit, was sie kriegen konnte. Doch auch dafür, für einen berechtigten Rachefeldzug, wurde sie bestraft.
    Sie schnallte sich ihren Rucksack auf die Schulter. Er war leicht. Nur der Brief und die Kleidung für ihre Arbeit waren darin. In einer Stunde würde ihre Arbeitszeit wieder beginnen. Es blieb noch Zeit zu träumen. In der High School, als sie von ihrer Sitznachbarin eine richtige Antwort erhaschte, freute sie sich, wie sich alle freuen, wenn ihnen so etwas gelang. Nun hatte sie wieder eine richtige Antwort erhascht. Eine Antwort, auf so viele offene Fragen in ihrem Leben. Sie glaubte an das Schicksal, und als sie gestern auf den Seiten ihres Internet-Buchhändlers diesen Brief fand, empfand sie das als Zeichen. Sie hatte lange warten müssen. Sollte sie in Erfahrung bringen, wer T. war, dann würde sich ihr ganzes Leben verändern – nur wusste sie das nicht.

Kapitel 1
     
     
    Ungewöhnliche Stille umgab sie. Sie lag auf einem selbstgezimmerten Holzbett, das ihr Onkel in liebevoller Kleinarbeit angefertigt hatte. In das Kopfteil hatte er den Kopf seines Lieblingspferdes auf der Farm eingeschnitzt. Durch ein paar extra Schrauben hatte er das Quietschen beseitigt, das Donna immer ärgerte. Sie schlief zuvor immer als Letzte auf der Farm ein. Das bescheiden möblierte Zimmer war nur für sie da, wenn sie zu Besuch auf der Farm ihres Onkels war. Zweimal im Jahr durfte sie ihn besuchen. Es waren die schönsten Wochen ihrer Kindheit.
    Die ersten Sonnenstrahlen dieses Aprilmorgens fielen auf ihr Gesicht. Sie vernahm das Wiehern der Pferde, das Blöken der Schafe und die Laute der Kühe. Es waren Laute, die wie Balsam auf ihrer kindlichen Seele wirkten. Vor drei Tagen, als sie von Zuhause wegfuhr, hatten ihr ihre Eltern wieder das Übliche angetan. Sie drehte sich auf die Seite und schlug die strahlend weiße Bettdecke hoch. Auf ihren Oberschenkeln konnte sie dunkelblaue Flecken sehen. Sie wollte das hoch gerutschte Nachthemd nicht weiter schieben. Sie wusste, was auf ihrem Oberkörper zu sehen war.  
    Die Farm ihres Onkels lag in der Region Peaks of Otter in den Blue Ridge Mountains, Virginia. In einem idyllischen Tal hatte ihr Onkel die Farm seines Vaters übernommen.

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