Blaine McCracken 6: Der Tag Delphi
gekommen war. Er fuhr mit den Enthüllungen fort, die er bei dem beinahe tödlich verlaufenen Treffen mit Cleese erfahren hatte, und berichtete dann über die Fahrt nach New Mexico und Sandburg Eins. Als er fertig war, nickte er Kristen zu. Sie erzählte ihre Geschichte und schloß mit der Vermutung, daß eine unbekannte Partei anscheinend in größerem Umfang Atomwaffen stahl.
Während Carlisle zuhörte, schien er immer aufgewühlter und nervöser zu werden. Er wirkte abwechselnd aufgeregt und schockiert und lauschte den Geschichten, wie man solche über einen alten Freund vernimmt. Als Kristen endete, war sein Blick entrückt und in die Ferne gerichtet, voller Nostalgie und Sehnsucht.
»Besser, als ich dachte«, äußerte er sich. »Viel besser.«
»Auf welcher Seite stehen Sie, Mr. Carlisle?« fragte Blaine.
»Warum muß man immer auf irgendeiner Seite stehen? Ich habe die meine sowieso schon vor fast zwanzig Jahren gewählt.«
»Weil Sie die Mittel zum Zweck nicht billigen. Was hat sich daran geändert?«
»Immerhin besteht jetzt die sehr reale Möglichkeit, daß sie Erfolg haben werden.«
»Offensichtlich konnten Sie vor zwanzig Jahren damit nicht leben.«
»Heute ist es etwas anderes.«
»Wieso?«
»Weil die Situation heute viel verzweifelter ist.«
»Nein«, hielt Blaine entgegen, »weil Sie ein Teilnehmer und kein Zuschauer waren. Und als Sie von innen nach außen sahen, wurde Ihnen klar, daß die Ziele des Unterausschusses falsch waren. Doch nun schauen Sie von außen nach innen. Die Ziele jagen Ihnen keine Angst mehr ein, weil sie Ihre private Welt hier unter der Stadt, die die Verschwörer einnehmen wollen, nicht gefährden können.«
»Diese Nation braucht, was wir anzubieten haben, Mr. McCracken.«
»Es heißt nicht mehr ›wir‹, Mr. Carlisle, sondern ›sie‹. Sie haben sich von ihnen abgewandt, weil Sie ihre Methoden nicht ertragen konnten. Sie haben erkannt, daß die Kosten höher sein würden als der Nutzen. Das Land würde mehr verlieren als gewinnen. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung hat sich nicht geändert. Wenn überhaupt, sind die Kosten noch höher geworden.«
»Und wenn wir sie jetzt nicht zahlen, bekommen wir vielleicht nie wieder die Gelegenheit, uns zu retten.«
»Uns zu retten, indem wir die einkerkern, die anderer Meinung sind und diese Meinung auch äußern? Sollen wir uns retten, indem wir die wenigen Freiheiten beschränken, die unsere Nation definieren?«
»Das sind notwendige Opfer!« beharrte Carlisle. »Das sehe ich jetzt ein. Wäre ich nur so klug gewesen, es auch damals zu begreifen …« Er hielt abrupt inne.
Blaine trat einen Schritt zu ihm heran. Plötzlich begriff er. »Vor fünfzehn Jahren sind Sie geopfert worden, nicht wahr? Sie sind nicht freiwillig gegangen, sondern wurden dazu gezwungen.«
Carlisles Lippen zitterten, und die Unsicherheit verzerrte sein Antlitz. »Wir hätten es so oder so haben können. Sie wollten nicht auf mich hören. Sie waren schließlich die Delphi. Ihnen gehörte die Zukunft.«
»Die Delphi«, wiederholte Blaine. Er entsann sich, daß Daniels diesen Begriff erwähnte, Carlisle hingegen am vergangenen Samstag abgestritten hatte, je davon gehört zu haben.
»Sie haben sich nach dem Orakel der griechischen Mythologie genannt, das vor jeder folgenreichen Handlung von den Machthabern befragt wurde«, führte Carlisle nun aus. »Seine Ratschläge haben die Zukunft also in großem Ausmaß bestimmt. Unser Unterausschuß entschied sich für diesen Namen, weil er seine Rolle im Prinzip genauso sah. Als die Kommission uns auflöste, trafen wir uns insgeheim weiter. Die Trilat-Mitglieder glaubten, es würde ausreichen, das Weiße Haus zu kontrollieren.«
»Carter hat ihnen das Gegenteil bewiesen.«
»Sie waren am Boden zerstört. Sie hatten die Macht, und sie ist ihnen wieder aus den Händen geglitten.«
»Und direkt in die Ihren.«
»Wenn Sie damit die günstige Gelegenheit meinen, die sich uns bot, ja. Wir haben gewußt, daß wir die Vision der Kommission nur verwirklichen können, wenn unser Mann genau zum richtigen Zeitpunkt an die Macht kommt, zu einem Zeitpunkt, da das Volk so entmutigt und entrüstet über den Zustand ist, in dem sich das Land befindet, daß es bereit ist, alles zu akzeptieren, was eine Veränderung herbeiführen kann. Ich habe den anderen gesagt, daß wir stets bereit sein und zuschlagen müssen, wenn dieser Augenblick kommt.«
»Aber die anderen wollten nicht warten, nicht wahr? Sie wollten den Augenblick,
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