Blamage!
erwachen. Krankenhäuser und Ausnüchterungseinrichtungen halten deshalb Riesenwindeln für Erwachsene vorrätig, und so manch ein harter Kerl musste am nächsten Morgen feststellen, dass er wieder zum Baby geworden war.
Noch schlimmer ist dran, wem Vergleichbares bei vollem Bewusstsein passiert, so beispielsweise Helmut Berger, Filmstar der 1970er, der in den letzten Jahren vor allem wegen bizarrer TV -Auftritte auffiel. Die Presse spottet heute gern über den abgewrackten Star und nennt ihn einen Grandseigneur, der zum Clochard wurde. Bis dato neigt er in Interviews zu Anzüglichkeiten und Ausfällen und bringt Moderatoren in peinliche Situationen, erlitt aber im Jahr 1971 selbst ein wahres Martyrium der Blamage: Beim Rotkreuzball in Monaco entleerte er sich in seine Hose â da es sich um eine blütenweiÃe Hose handelte, musste er den ganzen Abend sitzen bleiben. Irgendwann war der Ball zu Ende, und die Sache kam doch zum Vorschein. Berger selbst führte den Vorfall auf »schlechtes Kokain« zurück.
Ein öffentliches WC benutzen müssen
Männer wählen in der Regel die am weitesten auseinanderliegenden Urinale, um neugierigen Blicken zu entgehen und nicht in den Verdacht zu kommen, homosexuelle Spanner zu sein. Ist das nicht möglich, blickt man beim Urinieren starr auf den Strahl, an die Decke oder gerade auf die Wand und wenn man Glück hat, gibtâs dort sogar was zu lesen. Etwa: »Lies nicht die Witze an der Wand, den kleinsten hältst du in der Hand!« u. v. m. Manche Männer können in Gegenwart anderer überhaupt nicht pieseln.
Mit der Super-Size-Klopapierpackung unterwegs sein
Jemanden (den Chef, die Angebetete, die Nachbarn) zufällig beim Kauf von Toilettenpapier, Schwangerschaftstests, Tampons, Kondomen oder Unterwäsche zu treffen ist stets unangenehm. Es gibt beispielsweise Leute, die es unter allen Umständen vermeiden, mit einer GroÃpackung Toilettenpapier unterm Arm auf der StraÃe gesehen zu werden, diesen Hygieneartikel stattdessen konspirativ in Kleinstmengen einkaufen und so in die eigene Wohnung schmuggeln.
Eine unerklärliche Psychosomatik entwickeln
Am rätselhaftesten und peinlichsten sind psychisch bedingte Körperreaktionen, die scheinbar willkürlich und unvorhersehbar auftreten. Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt beschrieb einmal einen seltsamen Anfall, den sie während eines Vortrags über ihren Vater bekam: »Ich öffnete den Mund und begann vom Hals abwärts an zu zittern. Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall. Komischerweise war meine Stimme nicht betroffen.« Hustvedt konnte den Vortrag trotz alledem über die Bühne bringen, ihre 50 Zuhörer hörten taktvoll zu. »Meine Mutter sagte«, erinnerte sich Hustvedt später, »sie hätte den Eindruck gehabt, einer Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl beizuwohnen. Es schien, als hätte irgendeine unbekannte Macht plötzlich meinen Körper übernommen.« 23
Peinliche Krankheiten
Erkrankungen können lebensbedrohlich, schmerzhaft, lästig sein, einige gelten jedoch als ausgesprochen peinlich, und die Betroffenen verzichten aus Gründen der Diskretion nur allzu gerne auf das Mitgefühl anderer. Dies betrifft vor allem gesundheitliche Probleme, die mit mangelnder Hygiene oder häufig wechselnden Sexualkontakten in Zusammenhang stehen: Läuse, Flöhe, Krätze, Pilzbefall und Geschlechtskrankheiten. Auch psychische Probleme werden von den Betroffenen oftmals so lange wie möglich verheimlicht, könnte doch der Gang zum Psychotherapeuten oder gar der Aufenthalt in einer entsprechenden Klinik anderen als Beweis dienen, dass man verrückt oder zumindest labil und wenig belastbar sei. Es gibt sogar Verheiratete, die dem Partner jahrelang verheimlichen, dass sie sich in wöchentlicher therapeutischer Behandlung befinden. Deutschland ist eben noch längst nicht das Manhattan eines Woody Allen, wo sich jeder einmal die Woche auf die Couch legt und die Psychotherapie als Statussymbol gilt.
Kapitel 4
Geschichte der Blamage
Die Blamage â Errungenschaft der Zivilisation
Das, was man als peinlich empfindet, ist von der Sozialisation und dem Charakter bestimmt, ist einerseits gesellschaftlich und andererseits auch ganz individuell bedingt, denn jeder merkt sich von Kindesbeinen an Szenen, die ihn in seinem
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