Blamage
zurückgewiesen wird oder sich auch nur einbildet, deswegen abgelehnt zu werden. Traditionellerweise neigen Frauen eher zur Körperscham (»Bin ich schön, gepflegt, entspreche ich den gängigen Körperidealen, der Mode?«), während Männer primär die Kompetenzscham, die Misserfolgsscham fürchten (»Bin ich leistungsfähig, aktiv, souverän, innovativ?«). Körperscham kann aber auch durch Krankheiten, Zufälle und Ungeschicklichkeiten ausgelöst werden, die einen körperlichen Kontrollverlust anzeigen: Stolpern, Rülpsen, sich bekleckern usw. So blamierte sich eine Studentin vor 200 Zuschauern in einem vollen Hörsaal: »Ich musste in der Mathe-Vorlesung früher gehen, es mussten noch ein paar Leute aufstehen, um uns durchzulassen. Das war schon etwas laut. Meine Freundin war schon aus der Reihe raus auf der Treppe, und ich dachte gerade noch: âºUps, du hast auch noch die lauten Schuhe anâ¹, da bleib ich mit meiner Handtasche an einem Tisch hängen und schlappe gleichzeitig mit einem Fuà aus meinen neuen Esprit-Pumps raus. Der Schuh fällt runter und klatscht eine Reihe vor uns auf den Boden, während ich nach vorne falle und auf allen vieren auf der Treppe lande, Handtasche noch um den Arm, aber nur noch einen Schuh an. Der ganze Hörsaal hat gelacht. Es war mir so furchtbar peinlich und ich musste dann sogar noch warten, bis ich meinen Schuh wieder zurückhatte. Dann bin ich einfach rausgerannt.« So weit die Mathe-Studentin Alina, die ihre Story in einer Onlinediskussion zum Thema »Blamagen« zum Besten gab.
Eine der ergiebigsten Quellen für Peinlichkeitsgefühle ist die Misserfolgsscham oder Kompetenzscham. Diese tritt auf, wenn die eigene Kompetenz, Kraft, Intellektualität und moralische Integrität durch selbst verantwortete Misserfolge in Zweifel gezogen werden könnte. Dazu gehört auch, der Lüge überführt zu werden. Für viele Menschen gibt es nichts Schlimmeres, als nach langen Jahren der Ausbildung und Berufstätigkeit Unfähigkeit und Unwissen zu offenbaren. Für andere ist es besonders heikel, wenn sie aufgefordert sind, vor Publikum zu referieren, etwas Wissens- oder Sehenswertes anzubieten, sich zu unterhalten oder sich souverän zu präsentieren, etwa bei einer Konferenz. Obwohl sie eigentlich kompetent sind, werden sie von Angst gelähmt. Denn falls der Vortrag im grellen Scheinwerferlicht der Bühne misslingt, wird die mangelnde Kompetenz wie unter der Lupe vergröÃert â und ein Blackout oder Schwitzanfall auf der Bühne ist umso schlimmer, je weiter der eigene Spezialistenstatus schon gediehen ist. Fast schon traumatisch sind (besonders für Männer) Erlebnisse, die mit mangelndem technischen Verständnis oder unzureichenden handwerklichen Fähigkeiten verknüpft sind, während man Frauen eher nachsieht, wenn sie keine Reifen wechseln, nicht gut einparken oder PC s konfigurieren können. Unter die Rubrik der Kompetenzscham fallen auch mangelnde Eloquenz, Schlagfertigkeit, Geistesgegenwärtigkeit. Die Filmemacherin Doris Dörrie lieferte einmal dazu ein Musterbeispiel. Bei der Verleihung des Bundesfilmpreises 1995 war ihr Film Keiner liebt mich mit Silber prämiert worden: »Wir waren alle wahnsinnig aufgeregt und happy. Auf dem anschlieÃenden Empfang kam ein Herr auf mich zu, groà gewachsen, weiÃhaarig. Er hat mir sehr nett gratuliert [â¦] er sah aus wie ein Filmproduzent, da habe ich gefragt: âºWelchen Film produzieren Sie denn gerade?â¹ Er hat ein bisschen gestutzt und sagte dann: âºJa, ich wäre auch ganz gern Filmproduzent â¦â¹ Später stellte sich heraus, es war Roman Herzog (der damalige Bundespräsident)!«
Für manche Zeitgenossen ist der Alptraum der Kompetenzscham so beängstigend, dass er tödliche Folgen haben kann. Der deutsche Industriellenerbe Gunter Sachs setzte seinem Leben am 7. Mai 2011 ein Ende, weil er an Alzheimer erkrankt war und die Aussicht, als vergesslicher Greis die restliche Lebenszeit dahinzudämmern, unerträglich fand. Er, der eloquente Playboy, Kunstsammler und Jet-Set-Senior wollte sich diesen Abgang ersparen und suchte den Freitod, als die ersten Vorboten der Krankheit auftauchten, als ihm die ersten Blackouts zusetzten. »Jene Bedrohung galt mir schon immer als einziges Kriterium, meinem Leben ein Ende zu setzen«, erläuterte er in seinem Abschiedsbrief.
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