Blanche - Die Versuchung
Stirn. Seine Gedanken standen ihm praktisch ins Gesicht geschrieben. Diese aufgelöste junge Frau sollte Waynes Protegé sein, die den Ruf hatte, ein erbarmungsloses Miststück zu sein, das zum Spaß ihre Opfer ausweidete? Jeder wusste, dass man sie besser nicht reizen sollte, weil sie mit ihrer Glock auf hundert Meter einer Mücke den Rüssel wegpusten konnte. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, schoss sie auf alles, das ihr im Weg stand, und fragte erst hinterher nach den Konsequenzen.
Was er in diesem Moment sehen musste, war weder kaltblütig noch roh. Hier saß sie wie ein dünnhäutiger Anfänger, dessen gut gepflegte Fassade im Begriff war, auseinanderzufallen.
„Was ist passiert?“
„Nichts“, kam es von ihr wie aus der Pistole geschossen.
Sein Blick verriet, was er davon hielt, doch das war ihr egal. Er konnte glauben, was er wollte. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, darauf, sich wieder einzukriegen – zum Teufel, sie war völlig von der Rolle. Wohin hatte sich ihre kühle Beherrschtheit verkrochen? Was war mit all den Dingen, die Wayne sie in den letzten Jahren gelehrt hatte? Er war keine vier Wochen tot, und sie benahm sich wie ein verfluchter Dilettant, übermannt von ihren Emotionen, und warum? Weil sie seit Neustem einen Freund hatte, der sie schwächte, so sah es aus! Beliar tat ihr nicht gut, sie musste ihn wieder loswerden …
In Gedanken gab sie sich eine Ohrfeige.
Bei allen Höllenhunden, reiß dich gefälligst zusammen!
Sie musste an etwas anderes denken. An etwas, das sie mehr hasste als ihre Schwäche. Wie aus dem Nichts tauchte Zoeys Gesicht vor ihr auf, und endlich, als sie schon dachte, sie würde jeden Augenblick durchdrehen, überwältigte die bekannte Kälte sie und verwandelte ihr Blut in Eiswasser. Langsam entließ sie den angehaltenen Atem. Schon besser.
Und jetzt wird verhandelt.
Sie stellte das Glas ab, erhob sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Im Stehen feilschte es sich leichter. „Diese Sache hat nichts mit deinen Geschäften zu tun, es betrifft weder dich noch Sergej.“
„Wen betrifft es dann?“
„Das ist etwas Persönliches.“
„Ah“, machte Enzo „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Er schenkte ihr nach und reichte ihr das Glas. „Trotzdem interessiert mich, wen du in meinem Arrondissement verstecken willst. Ich muss schließlich wissen, wer meine neuen Mieter sind.“
Schon klar. Fast hätte sie geschnaubt. „Es sind Kinder.“
„Bambini?“ Enzo sah überrascht aus.
Blanche nickte. „Kinder, Jugendliche und eine Handvoll Betreuer.“
„Zu wem gehören sie und vor wem müssen sie sich verbergen?“
„Es sind einfach nur Kids, okay?“
„Irgendwelche Kinder also, eh?“
Jetzt schnaubte sie doch. „Also schön, es sind … Hochbegabte, die für ein, ähm, Experiment herhalten sollen. Eine streng geheime Sache, von daher kann ich nicht deutlicher werden, du verstehst schon.“ Sie kippte den zweiten Cognac weg, und stellte das Glas auf den Couchtisch. Sie musste keine Gedankenleserin sein, um Enzos Blick zu deuten, der unmissverständlich besagte, dass er sie für eine grottenschlechte Lügnerin hielt.
„Wenn du mehr verraten würdest, könnte ich dir vielleicht helfen“, gab er zu bedenken.
Aber klar doch. Und sie auf diese Weise noch tiefer in sein Netz aus Gefälligkeiten verstricken.
Enzo deutete ihre Miene richtig. „Also schön, Blanche, ich habe tatsächlich ein leer stehendes Haus, das ich dir überlassen könnte.“
Was für eine Überraschung. Blieb die Frage, was er als Gegenleistung verlangte. Sie hatte Prinzipien, auch wenn diese in letzter Zeit ein paar Dellen abbekommen hatten. Manche Dinge würden sich allerdings nie ändern, denn das No-go für Frauen und Kinder war unumstößlich. Sie legte nur Typen aus der Branche um. Zuhälter, Dealer, Erpresser, Entführer & Co. So hatte Wayne es gehalten und seine Regeln galten auch für sie. „Wo liegt es?“
„In der Rue Saint-Jean.“
Blanche runzelte die Stirn. „Gegenüber von Saint-Michel des Batignolles?“
Er nickte. Also doch ein Lagerhaus. Hoffentlich waren die sanitären Anlagen in Ordnung, alles andere würde sich zeigen.
Enzo hatte wieder seinen Platz am Kamin eingenommen und nippte an seinem Rotwein. Sie wusste genau, was er dachte. Er würde den Umstand ihrer Klemme nutzen, um sie langfristig an sich zu binden, so wie er es mit Wayne getan hatte. Darum würde er ihr es jetzt leicht machen, nach dem Motto: Siehst du, so
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