Blanche - Die Versuchung
anerkannte.
Darauf konnte er warten, bis er schwarz wurde.
Dieser Besuch war ein Fehler, das erkannte sie jetzt, und diese Einsicht ließ ihre ohnehin wacklige Selbstbeherrschung weiter bröckeln. Wo war die verdammte Kälte, wenn man sie brauchte?
„Also zieh deine Jacke aus und setz dich, damit wir noch einmal von vorn anfangen können.“ Er streckte die Hand aus, als duldete er keinen Widerspruch.
„Besten Dank auch, aber dafür habe ich keine Zeit.“ Ihr Tonfall machte unmissverständlich klar, was sie von seinem Vorschlag hielt.
„Dann nimm sie dir oder ist dein Anliegen doch nicht so wichtig? Da muss ich dich falsch verstanden haben – entschuldige bitte.“
Dieser Arsch! Machte einen auf Klugscheißer, während die Dämonen jederzeit wieder zuschlagen konnten. Und diesmal wären ihnen die Kinder ungeschützt ausgeliefert. Abgesehen von Beliar, der sie bewachen würde, bis sie sicher untergebracht waren. Nicht zu vergessen Camille und ihr kleiner Schlägertrupp. Camille. Mit diesem Namen verband sie so viele Erinnerungen, die ohne Vorwarnung auf sie einschlugen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ihre Abwehr schwankte.
Nicht jetzt!
Mit einem Mal fühlte sich ihr Hals an, als hätte sie Holzwolle geschluckt. Sie musste stark sein und ihre Fassung bewahren, sie konnte sich keine Schwäche erlauben, schon gar nicht in diesem Augenblick.
Nicht fühlen!
Der Schmerz zog sich auf ihren mentalen Befehl hin zurück und wurde nahtlos von ihrer Wut ersetzt, die sie ihr Leben lang begleitet hatte. Zorn war ihre stärkste Emotion, die alles andere überdeckte. Wie eine Grabplatte, die sie von Licht und Luft aussperrte und in ihrer ganz persönlichen Gefühls-Gruft gefangen hielt. Dennoch war Wut besser als Schmerz. Hass besser als Angst.
Zumindest dachte sie das immer, bis sie vor wenigen Wochen Beliar getroffen hatte. Ihr Dämon war wie ein Flächenbrand über sie gekommen. Seinetwegen verstieß sie gegen sämtliche Regeln, die Wayne ihr eingehämmert hatte. Sie war unvorsichtig geworden, denn Beliar machte sie durcheinander. Er brachte sie dazu, dass sie die Kontrolle abgab, dass sie weich wurde – schwach. Doch anstatt diese Schwäche zu bekämpfen, begrüßte sie diese in seinen Armen, das war ebenfalls neu. Sie war verwirrt, und das nun schon seit Wochen.
Als wäre ihr Leben nicht kompliziert genug, hatte sie vor Kurzem erfahren, dass sie Tchorts einzige lebende Tochter war, auch bekannt als der Schwarze Gott. Ein abtrünniger Dämon Saetans, der augenscheinlich rückfällig geworden war und heute Nacht das Waisenhaus angegriffen hatte.
Und nun tauchte Camille wie aus dem Nichts auf, und rief all die bitteren Erinnerungen ihrer Kindheit hervor. Bilder, die sie seit Jahren vergessen wollte.
„Blanche?“
Sie zuckte zusammen, als sie erkannte, wie nah Enzo an sie herangetreten war. Verdammt, was war nur mit ihr los?
Enzo ergriff ihre Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte, und nahm sie zwischen seine. Vorsichtig, als hätte er es mit einem tollwütigen Hund zu tun, führte er sie zu der Sitzgruppe und drückte sie mit sanfter Gewalt auf das Sofa. „Sag mir, was los ist.“
Seine Stimme hatte einen väterlichen Klang angenommen, aber es waren seine Augen, die sie berührten. Eigentlich passten sie nicht zu ihm. Sie hatte etwas Kaltes erwartet, einen seelenlosen Buchhalterblick oder den eines skrupellosen Ganoven, der über Leichen ging.
Andererseits – tat sie nicht dasselbe? Was machte sie so sicher, dass sie noch eine Seele besaß?
Verdammt noch mal , jetzt konzentriere dich endlich!
Langsam drehte sie durch. Seit sie mit Beliar zusammen war, kamen ihr immer öfter solche Gedanken. Das wurde auch nicht besser, nachdem sie Miceal kennengelernt hatte, einen Erzengel, der ab und zu beim Gare du Nord vorbeischaute – dem Tor zum Norden. Das hatte irgendeine höhere Bedeutung, doch leider war sie noch nicht dahintergekommen, welche.
Enzo musste noch mal aufgestanden sein, denn im nächsten Moment drückte er ihr ein bauchiges Glas in die Hand.
„Trink das“, wies er sie an, wie ein Kind, das man zwingen muss, vor dem Zubettgehen seine warme Milch auszutrinken.
Das hier war allerdings keine Milch. Die goldene Farbe sah wie ein schwerer Cognac aus. Blanche roch misstrauisch daran, dann stürzte sie das Zeug hinunter. Sofort breitete sich eine wohlige Hitze in ihr aus, die sie von innen heraus wärmte. „Scheiße!“, keuchte sie, als sie wieder Luft bekam.
Enzo runzelte die
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