Blanks Zufall: Roman
weg. Im Gehen rutschte ihr die Schlaufe der Tasche von der Schulter. Wenn der Apfel nicht gewesen wäre, hätte sie die Schlaufe halten können und zu ihrer ursprünglichen Position zurückziehen. Doch dies war Marcus' Moment, nicht ihrer, als Anna den Griff nicht zu fassen bekam und die Tasche sich im Fall an ihrem gehenden Bein abstieß und drehte, sodass sich die Lasche öffnete. Notizhefte, Stifte, eine Wasserflasche und anderes Utensil erbrachen sich über den Boden.
„Scheiße“, war das erste Wort, das Marcus je deutlich von ihr vernahm.
Sie hockte sich hin, so wie sie es eben getan hatte, nur diesmal war jede Bewegeung von einer Hektik gezeichnet. Sie wollte verschwinden und hielt Marcus tatsächlich für einen von denen. Er musste diesen Eindruck zerstören, bevor Anna alles eingeräumt hatte, also öffnete er seine Tasche und kippte seinen Inhalt neben dem ihren aus. Seine Stifte, Notizbücher, eine Wasserflasche und ein Buch fielen heraus.
„Was soll das?“ brummte sie, als Marcus sich ihr gegenüber hockte und seine Sachen vom Boden zurück in die Tasche steckte.
„Ich bin Schuld daran, tut mir leid“, antwortete er, „wenn ich nicht gewesen wäre, dann wäre die Tasche bestimmt nicht so gefallen. Du wärst gemächlich, in deinem üblichen Tempo losgegangen, hättest dabei deinen Apfel gegessen und nicht das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden.“ Marcus hielt inne, lächelte anteilnehmend und wartete auf eine Reaktion.
Anna hatte aufgehört, ihre Sachen in die Tasche zu räumen, obwohl noch drei Stifte und ein kleines Notizheft auf dem Boden lagen.
„Was redest du denn da? Woher willst du wissen, dass ich meine Tasche nicht absichtlich fallen gelassen habe?“
So nah nun, ihr Gesicht. So blass und zart ihre Haut, ihre blitzenden Augen zum Lächeln verzogen, die Wimpern ein wenig zu kurz für eine Frau, die Lippen voll, das Piercing ein blaues Leuchten, hohe Wangen, eine schwarze Strähne bis unter das Kinn. Marcus fehlten die Worte.
„Was ist los?“ fragte sie. Marcus blickte auf sein Buch. Seine rechte Hand griff langsam danach, hob es vom Boden.
„Du bist los“, presste er hinaus. Anna lachte nun laut auf, was Marcus aus seiner Starre löste, wie das Lachen so vieles löste. Einige Studenten, die auf dem Weg nach draußen waren, glotzten zu ihnen.
„Du bist ein Freak“, sagte sie, „weißt du das? Ein Freak, wie er im Buche steht. Was liest du da eigentlich?“
Marcus drehte den Buchrücken zu Anna hin, sodass sie lesen konnte. Er hatte den Schutzumschlag vor vielen Jahren entfernt und nicht mehr gefunden. Anna lehnte sich vor und las den Titel.
„Oh mein Gott, ich liebe dieses Buch“, sagte sie plötzlich und der zögerlichen Neckerei wich eine Begeisterung in ihrer Stimme, aufrichtig und intim. Mit diesem plötzlichen Wegfallen der Grenze, die zwischen zwei Fremden zu Beginn immer existierte, war ein Weg geebnet, den er nicht mehr alleine gehen konnte. Dies war der erste Moment in einer ganzen Reihe von Momenten, die ihm das Gefühl gaben, Anna schon immer gekannt zu haben.
„Wenn ich die Gerichtsverhandlung lese, werde ich immer so aggressiv. Am liebsten würde ich jedem Einzelnen von diesen Hinterwäldlern in die Fresse schlagen. Außer Atticus natürlich. Und diese Selbstverständlichkeit, mit der der Rassismus gelebt wird, einfach widerlich.“
Marcus nickte und lächelte nicht mehr. Wegen des Themas, nicht wegen Anna; wegen ihr pochte sein Herz nur schneller. „Ich lese es gerade das vierte Mal“, sagte er, „ich weiß genau, was du meinst. Das waren damals schon miese Zeiten.“
Anna stopfte nun den Rest ihrer Sachen zurück.
„Wieso damals? Ist doch heute noch so“, erwiderte sie, „viel verdeckter als damals, klar, aber immer noch.“
„Ja, wahrscheinlich“, antwortete Marcus und steckte das Buch in seine Tasche, „aber damals wurde Rassismus noch viel offener gelebt und akzeptiert. Gewalttaten an Ausländern waren alltäglich und wurden von vielen verstanden oder sogar unterstützt. Und um einen Ausländer als kriminell zu verurteilen, brauchte es nur die Aussage eines weißen Mannes. Wenn heute jemand so was machen will, wie in dem Buch, dann braucht er richtige Beweise. Vor dem Gericht sind erstmal alle gleich.“
Anna kniff die Augen zusammen und lächelte mitleidig. Marcus fühlte sich ertappt. Als wenn das Gericht wirklich alle gleich behandelt, dachte er, hoffentlich denkt sie nicht, ich studiere Jura im Nebenfach.
„Verboten oder
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