Blanks Zufall: Roman
sich zu offenbaren als einer von ihnen. Das klang abgedreht, doch Marcus gefiel der Gedanke. Denn eigentlich sprach er sie in der vierten Woche des ersten Semesters nur an, weil er es leid war, alleine zu sein. All seine vorherigen Beziehungen waren zwar ernst gemeinte aber stets gescheiterte Versuche, jemandem nahe zu kommen oder zu sein. Jasmin und Katharina, was waren sie schon im Vergleich zu Anna? Nur Erinnerungen, die Schule und Zivildienst.
Die Vorstellung davon, wie etwas beschaffen ist, bleibt aber nur solange beständig, bis versucht wird, sie mit der Realität abzugleichen. Danach wird sie vor allem eines, zerbrechlich. Und Marcus hatte lange überlegt, sie anzusprechen. Wie viel einfacher war es, sie von weitem aus zu beobachten und sich nur auszumalen, wie es war mit ihr zu sein. Aber wie viel einsamer war es auch.
Marcus überlegte lange, welches Seminar ihm in Erinnerung bleiben sollte als der Ort ihres ersten Wortwechsels, und ob er sie davor oder danach ansprechen sollte. Er entschied sich für letzteres und die „Grundlagen der empirischen Sozialforschung“, eine Vorlesung, die in einem der größten Hörsäle statt fand, weil sie für alle Anfänger des Fachbereichs war. In der Masse konnte viel Privates geschehen, weil jeder nur mit sich beschäftigt war.
Marcus war stets zu früh und Anna kam stets kurz vor Beginn, und wenn sie den Raum betrat, änderte sich seine Wahrnehmung. Der Rest der Studierenden verschwand in einer Geräuschkulisse und ein Spot beleuchtete sie allein, folgte ihr zu einem Platz am Rand im vorderen Bereich.
Anna trug immer dieselbe grüne Jacke mit dem Wolfskin-Zeichen und ihre braune Tasche, die an eine Lehrerin erinnerte, hing an der rechten Schulter hinab. Ihr Haar trug sie meist zu einem Zopf gebunden, aber nicht an jenem Tag, als Marcus sie ansprach. Er war froh zu bemerken, dass sie alleine kam und nicht in den letzten Tagen zu eine von denen mutiert war, die nur noch in Gruppen unterwegs sein konnten, weil das Studentensein zu sehr verängstigte. Auch sonst sprach sie an jenem Tag mit niemandem.
Die folgenden neuzig Minuten waren viel zu lang, weil er es kaum erwarten konnte, Anna endlich so nah zu sein, dass auch sie ihn wahrnahm. Und die Minuten waren viel zu kurz, weil er sich genau vor diesem Moment fürchtete. Sobald er mit ihr in Kontakt trat, konnte er sie nicht mehr kontrollieren, keine Reaktion und kein Lächeln war mehr erdenkbar.
Er hatte Lampenfieber, wie er es bisher nur von seinen Auftritten kannte. Und schlimmer noch, seine Handflächen waren feucht von Schweiß. Er rieb sie mehrmals an seiner Jeans trocken, aber vergeblich. Als der Professor seine Rede beendete, war Marcus schon im Foyer vor den Eingangstüren. Zuvor hatte er die Toilette aufgesucht, um seine Hände zu waschen, doch der Schweiß benässte weiter seine Haut.
Die Studenten strömten an ihm vorbei, anonym und laut, und Marcus beobachtete beide Türen, um Anna nicht zu verpassen. Wäre es doch gar nicht nötig gewesen, so aufmerksam zu sein, schließlich erspürte er sie, und so wanderte sein Blick wie magnetisiert zur linken Eingangstür, genau in dem Moment, als Anna sich durch eine kleine Gruppe von Jungs quetschte, die den Gang blockierte.
Die Jacke hatte sie über ihre Tasche gelegt, die nun über ihre rechte Schulter hing, und sie blieb am Treppengeländer stehen um sich anzuziehen. Das, so fand er, war Stichwort genug. Marcus war kaum zwanzig Schritte von ihr entfernt und doch glaubte er, Hunderte von Kilometern hinter sich zu lassen, bevor er endlich bei ihr stand. Anna schloss gerade ihre Tasche, aus der sie einen Apfel geholt hatte.
Genauso wie Marcus plante, wann und wo er Anna ansprechen wollte, arbeitete er an dem Wie . Es gab zu viele Sprüche, die das Gegenteil von dem bewirkten, was ein Mann von einer Frau wirklich wollte, nämlich Aufmerksamkeit. Und Marcus kannte viele solcher Sprüche, manche hatte er selbst schon probiert. Und er durfte nicht so wirken, wie er sich in den letzten Wochen gefühlt hatte, als verliebter Spinner, der sich die unterschiedlichsten Sachen einredete, warum gerade Anna eine Traumfrau war und er mit ihr zusammen sein wollte. Schon der erste Satz musste Anna davon überzeugen, dass Marcus keiner von den vielen Jungs war, die sich bereits an ihr versucht hatten, und kein Stalker. Marcus wollte der sein, der er war.
Anna biss von ihrem Apfel ab, als er „Hallo“ sagte. Sie nuschelte eine Bemerkung, während sie aß und drehte sich
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