Blanks Zufall: Roman
nicht“, sagte sie dann, „der Rassismus in den Köpfen findet seine Wege in Taten, und meist bleiben sie unentdeckt. Mölln ist nur eine Ausnahme. Hast du den Artikel in der Zeit gelesen, wo sie aufklären, dass viele rassistisch begründete Morde gar nicht als solche in Statistiken auftauchen?“
„Nee.“
„Und weißt du, warum sie nicht auftauchen?“
Marcus schüttelte den Kopf.
„Weil es viel zu viel Aufwand wäre, bürokratisch versteht sich, zu beweisen, dass es sich auch tatsächlich um rassistische Motive handelte.“
„Das ist doch ziemlich vereinfacht, oder nicht?“
Als hätte sich Anna aus dem Gespräch geklinkt, antwortete sie nicht, sondern richtete ihren Oberkörper gerade, noch in der Hocke, und schüttelte ihren Kopf, dass mehr schwarze Strähnen in ihr Gesicht hingen.
„Brrr, ich krieg' eine Gänsehaut, wenn ich nur an dieses Buch denke. Siehst du?“ Sie hielt ihren rechten Arm vor und zog den Ärmel hoch. Marcus sah nur einen zierlichen, blassen Unterarm mit dünnem Flaum. „Es ist so genial, aber so düster ungerecht. Ich liebe es. Ich heiße übrigens Anna.“
„Blank“, sagte Marcus.
„Komischer Name.“
„Eigentlich Marcus, aber alle nennen mich Blank.“
„Also gut, Blank. Freut mich, dass du deine Tasche ausgekippt hast.“
Beide waren längst fertig mit dem Einpacken ihrer Sachen und beschlossen, in der T-Stube, einem Studentencafé, die Zeit gemeinsam zu verbringen, bis das nächste Seminar begann. Es war alles anders, als Marcus es sich vorgestellt hatte, aber es war auch alles besser. Das Gespräch mit ihr war authentisch entstanden, und zufällig. So, wie er es sich für sein Leben wünschte.
DAS LAUFEN DAUERT an. Marcus' Beine bewegen sich im Takt seines Atmens. Der Körper ein verselbständigter Motor, der nicht aufhören kann, sich zu bewegen, nicht aufhören will. Im Wind der Geschwindigkeit wippen seine langen Haare wie ein wildes Tier, das sich an seinen Hinterkopf klammert, um nicht hinunter zu fallen. Jeder Schritt schüttelt ihn, schüttelt das Innerste aus seiner Starre, in etwas Unbekanntes, Neues. Das ist, was Marcus braucht.
Und genauso plötzlich, wie er losgelaufen ist (für Anna war es plötzlich), bleibt er stehen, winkelt seine Knie an und stützt sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Schnaufend atmet er ein und wieder aus. Wäre seine Kleidung passend, könnte er einer von den Joggern sein, die regelmäßig im Stadtpark laufen. Eine Sporthose statt einer Jeans, die zu tief sitzt und auf den Schuhen Falten wirft, und Turnschuhe für seine braunen Stiefel, deren Leder im letzten Winter vom Streusalz im Schnee angegriffen wurde. Der graue Kapuzenpullover unter seine Jacke könnte an bleiben. Marcus schwitzt wie ein Jogger, aber er hat nicht die Kondition.
Der Stadtpark ist in der Nähe, das weiß Marcus, aber als er sich umschaut, sieht er nur beleuchtete Straßen und Häuser wie überall in Hamburg. Hinter vielen Fenstern flackert und leuchtet es, die Masse hat Feierabend und entspannt vor Fernsehern. Im Dunkeln ist die Stadt ein Ganzes, und man muss genau hinschauen, um die Unterschiede der Stadtteile zu entdecken, in Wagen und Menschen, Graffiti und dem Müll, der entweder sichtbar oder gut versteckt den Verbrauch der Einwohner nachzeichnet. Es sind die Spuren des menschlichen Lebens, die in der Nacht nicht mehr zu unterscheiden sind, wenn man nicht auf dem Kiez oder einer der wenigen anderen lebhaften Straßen unterwegs ist.
Marcus ist in Barmbek, einem Stadtteil für Arbeiter, das mit der Fuhlsbüttler Straße seine Konsummeile hat. Hier reihen sich Cafés und Restaurants neben Buchhandlungen und Bekleidungsläden, türkische Gemüseläden (gleich drei von derselben Familie) sitzen bei Eisdielen und Kiosken. Diese Straße ist noch beleuchtet, und Marcus hat sie eben laufend verlassen, weil er sich nicht der Gefahr aussetzen will, von Anna aus einem Bus gesehen zu werden. Vor dem Block House ist er rechts abgebogen und nun, wo ist er?, hat er sich verlaufen zwischen Wohnhäusern.
Er geht einfach weiter, geradeaus. Während er lief, klingelte es mehrmals aus seiner Hosentasche. Anna will mit ihm sprechen. Natürlich will sie das, weil sie seine Reaktion nicht versteht, nichts versteht sie mehr, oder hat sie je etwas verstanden? Sie will so weitermachen wie bisher, und das kann Marcus nicht. Vielleicht braucht sie es, diese Routine und das ewig gleiche Rumgehänge, um sich selbst nicht einzugestehen, dass sie beide versagt
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