Blanks Zufall: Roman
den Rest seines Kifferdaseins hinunter in Hamburgs Kanalisation.
Kapitel 3
Was bleibt, was kommt
MARCUS MISCHT DIE Karten neu. Den Stapel in die linke Hand gebettet, hebt er die ersten Karten mit der rechten an, mischt sie wahllos unter die anderen, hebt weitere hevor und mischt sie ebenfalls. Marcus kann entscheiden, wann er fertig ist, doch vorerst bleibt er gern in diesem Kreislauf. Das leise Rascheln beruhigt, und das Reiben der Karten aneinander, wenn sie zusammen gemischt werden. Die letzten zwei Tage hat er kaum geschlafen.
Egal, wie lange er mischt, egal, welche Karte dann oben liegt und welche danach folgt und danach, es ist kein Zufall. Begonnen mit der ungemischten Reihenfolge aller zweiundfünfzig Karten, ließe sich berechnen, welche Karte wohin zu welchem Zeitpunkt gesteckt wird. Wenn es denn jemand, oder einen Rechner, gäbe, der das könnte.
Als Marcus die Pik-Dame aufdeckt, ist es vorher bestimmt. Jetzt mischt er so, dass sie immer oben ist, der Zuschauer würde nicht bemerken, dass er trickst. Marcus steckt die Karte in die Mitte des Stapels, mischt und am Ende ist sie oben. Er wiederholt das Manöver, doch eine andere Karte kommt hevor.
Wo ist die Pik-Dame?, fragt er den eingebildeten Zuschauer. Oh, warten Sie, ich glaube, die ist nicht mehr hier. Marcus zählt den Kartenhaufen durch, einundfünfzig an der Zahl. Hier, sehen Sie nach, Sie ist nicht mehr da. Er schaut unter den Tisch, neben das Sofa, sie ist verschwunden. Ich glaube, Sie ist in Ihrer Jacke, der Herr. Aber die hängt doch an der Garderobe. Dann stehen Sie auf und schauen Sie nach.
Marcus steht auf und geht zu seiner Jacke im Flur, die noch immer an dem Nagel hängt. Er durchsucht seine Taschen und siehe da, die Pik-Dame wartet schon. Wie haben Sie das gemacht?, fragt der eingebildete Zuschauer. Das verrate ich doch nicht, erwidert Marcus. Machen Sie das nochmal! Sie wissen doch, man soll keinen Trick zwei Mal hintereinander vorführen. Dann machen Sie es später. Aber gerne doch, denkt Marcus und geht zurück zum Sofa.
Der Kaffee in seinem Becher ist kalt und er nimmt einen Schluck. Anna rief heute morgen schon drei Mal an, wie oft es gestern war, hat er aufgehört zu zählen. Er geht nicht ran und löscht die Einträge sofort. Wieviele Mitteilungen es bisher waren? Möchte Marcus nicht zählen; und er liest sie auch nicht. Ihre Anrufe auf seiner Mailbox löscht er mittlerweile ungehört. Gestern bot sie ihm das ganze Programm, von wütenden Schimpftiranden bis Drohnungen, über weinerliche Beteuerungen und Liebeserklärungen unter Tränen. Als würde sie einem Muster folgen, mittlerweile würde sie wohl versuchen, 'normal' mit ihm zu sprechen. Normal im Sinne, als wäre nichts passiert.
Marcus steckt die Pik-Dame wieder in den Stapel, die Karte, die für ihn Anna war. Jetzt muss er jemand anderen finden, der ihren Platz einnimmt, oder niemanden, das könnte er sich ebenso merken. Jede der zweiundfünfzig Karten symbolisiert etwas, jeder Trumpf steht für eine Gruppe.
Pik steht für Personen, die er kennt (Familie, Freunde und Kollegen), Kreuz für Personen, die er nicht kennt, aber gerne kennen würde (wie Damon Black, der seither als Kreuz Bube in Marcus Kopf verankert ist). Karo steht für Musik-Bands, die er mag (oder nicht mag, wie Velvet Underground für die Karo Neun, seit jeher eine schlechte Zahl).
Die Herz-Trümpfe sind etwas Besonderes, stellen sie doch keine Personen dar. Sie sind abstrakter, nicht so leicht zu betrachten. Hier assoziiert Marcus Geschehnisse aus seinem Leben (der Autounfall ist das As, denn damit begann alles, wie er befindet; der Herz König ist das Nicht-Erscheinen seines Vaters). Die Herzen dürfen keine Personen sein, es sind Gefühle, dafür steht es ja, das Herz.
Mit diesem Prinzip vermag Marcus zu bemerken, welche Karte an welchem Platz fehlt. Für einige Tricks benötigt er ein präpariertes Kartendeck, das nach einer bestimmten Reihenfolge sortiert ist (was der Zuschauer nicht weiß). Zum Beispiel steckt die Pik Sieben (gute Zahl und darum seine Mutter) stets zwischen dem Karo König (The Rolling Stones) und der Herz Dame, seinem Studium, oder dem Ereignis, das dazu führte, dass er nun studiert. Auch wenn er jetzt im dritten Semester das soziologische Denken zu schätzen weiß, ist Marcus sich nicht sicher, ob er von sich aus jemals angefangen hätte zu studieren.
Nach der Schule plagte Marcus, was so viele plagen, die bisher nur wussten, dass sie zum Lernen geboren wurden:
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