Blanks Zufall: Roman
ein Referat halten. Über dasselbe Thema, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, müssen sie bis Ende September eine Hausarbeit verfassen. Anna ist in jedem seiner Kurse, sie wählten dieselben Nebenfächer, und Marcus würde ihr ständig begegnen. Anna und das Studium, wenn er eines aufgibt, muss auch das andere verschwinden, denkt er.
Was hat ihm das Studium denn bisher gebracht? Marcus weiß jetzt, dass eine These eine Behauptung ist, die wissenschaftlich erst bewiesen oder widerlegt werden muss, ein bisher verhinderter Fakt oder eine Lüge, dessen Entlarvung hinaus gezögert wird. Eine Theorie kann die These bestätigen, eine Theorie erklärt gemeinhin ein soziales Phänomen. Je nachdem, welchen Umfang sie hat und was der Anspruch ihres Entwicklers war, kann sie auch die Gesellschaft an sich erklären. Als ob die Gesellschaft ein Ding wäre, das ebenso erklärbar ist wie physikalische Vorgänge (genau so sah es Emile Durkheim, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum ersten Professor der Soziologie wurde, als die Wissenschaft endlich offiziell gelehrt werden durfte). Aber was bringt mir dieses Wissen?, fragt sich Marcus, was er sich nie gefragt hat, weil immer Anna bei ihm war und Anna war der Sinn, zur Uni zu gehen.
Was soll ich stattdessen machen?, ist eine Frage, die er sich ebenfalls nicht beantworten kann. Marcus muss heute arbeiten, ein gut bezahlter Studentenjob bei MarketAnalyzer. Dort werden per Internet Links zu Fragebögen verschickt, die Interessierte oder auch nicht Interessierte ausfüllen mögen, damit die Auftraggeber, meist Großkunden wie Banken und Energiekonzerne, ihre Werbekampagnen so gestalten können, wie die Kunden es sich wünschen. Marcus entschuldigt seinen Job damit, dass er den Menschen hilft, unliebsame, bisweilen verdummende Werbung loszuwerden.
Aber er verfälscht Statistiken, wie jeder dort, wenn es sein muss, damit die Zahlen für die Kunden passen. Er presst die Daten in vorgegebene Tabellen, verhübscht aufbereitet. Die Oberfläche muss stimmen, für den Kunden, für Marcus' Vorgesetzten, für ihn selbst. Wenn die Daten gut präsentiert werden, hat alles seine Ordnung. Zwölf Euro fünfzig gibt es die Stunde. Ein annehmbarer Preis für kleine Lügen, die niemanden weh tun, und für eine Arbeit, die so wenig Sinn macht, dass Marcus nicht mehr darüber nachdenkt. Der Nebenjob passt nicht zu ihm, aber er braucht das Geld. Gezwungen sein zu tun, was man muss, weil man nicht tun kann, was man will.
„So ist das nunmal in unserer Gesellschaft, Marcus“, sagte seine Mutter, nachdem er die Grone-Schule verlassen hatte und nach einem, eben jenen Nebenjob suchte, den er brauchte, um sein kommendes Studium zu finanzieren. Für sie war es immer ein unveränderbarer Fakt. „Du brauchst Geld, um überhaupt zu überleben. Ich würde dir ja was geben, wenn ich könnte.“ Aber Claudia konnte nicht, kann es heute noch weniger. Krankenschwester zu sein bedeutet heutzutage auch, sich nach Profit sehnenden Investoren auszuliefern. Jedenfalls fiel das Albertinen-Haus, in dem sie arbeitet, dem Kreislauf des wirtschaftlichen Wachstums zum Opfer (Kranke bleiben nur so lang sie auch zahlen und die meisten Krankenschwestern und Pfleger werden mittlerweile über Zeitarbeitsfirmen engagiert).
Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt, beschreibt es wohl am besten. Kein Kind mehr, kein Teil eines großes Ganzen, sondern lediglich ein Produkt, geworfen um zu arbeiten. Was Marcus nicht versteht, warum jeder anscheinend vergaß, dass Gesellschaft auch ein menschliches Produkt ist. Heißt, sie bedingen einander, also wird die Realität konstruiert durch den Menschen, und erst dann wird die Gesellschaft zu einer objektiven Wirklichkeit, in der der Mensch ein Produkt ist. Das ist der Ansatz von Berger und Luckmann, die Autoren jener Theorie, die Anna und Marcus im Referat vorstellen sollen. Und Anthony Giddens, ein englischer Soziologe, ging sogar so weit, festzustellen, dass unsere Gesellschaftsform nur eine Möglichkeit der Realität ist, in der sich bestimmte Systeme durchgesetzt haben (Kapitalismus, Demokratie). Dieser Gedanke tröstet im Kleinen, es könnte auch anders sein.
Vielleicht ist das die Antwort auf Marcus' Frage, was sein Studium bringt. Seine animösen Gefühle gegenüber den Missständen hier und anderswo kann er endlich in klare Worte fassen. Dem Übel einen Namen geben, mit einer Theorie begreifen, was los ist (aber dann reihte er sich ein in die Gruppe der
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