Blanks Zufall: Roman
machst du das eigentlich noch, nach dem, was vorgefallen ist.“
„Hm?“
„Na ja, das mit Tim.“
„Was ist mit Tim?“ fragte Marcus ratlos.
Kerstin schüttelte den Kopf und ein unsicheres Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie antwortete:
„Na ja, du hast ihn doch hypnotisiert, oder?“
Das war ein Test gewesen, dachte Marcus, lange her, hat aber nicht gewirkt, weil Tim zu stoned war. Später habe ich viel bessere Testpersonen gehabt.
„Und dann hat er doch diese Paras gekriegt und musste in die Klapse, oder nicht?“ Kerstin schaute so, als ob sie selbst nicht glaubte, was sie sagte.
„Hat Anna dir das erzählt?“ fragte Marcus.
„Ja, wer denn sonst? Oder glaubst du, ich denke mir sowas aus, damit ich mit dir ein Gespräch am Laufen halte?“
Anna erzählt Geschichten, dachte er, das macht sie manchmal gerne, oder nicht?
Beide waren an dem Punkt das Thema zu wechseln, beide dachten dasselbe über Anna in dem Moment, und beide fragten sich wohl, ob es nicht besser gewesen wäre, sie hätten es bei einem 'Hallo' und 'Wie geht’s?' bei Karstadt belassen. Anders wollte Marcus die entstandene Stille nicht erklären. So schmeckte er die bittere Süße der Wahrheit auf seiner Zunge und die Wut in seinem Körper, als er abends Anna traf. Lügnerin, dachte er, als sie die Tür öffnete. Am liebsten hätte er sie angeschrien, als sie ihn küsste. Wie konntest du nur so einen Dreck über mich erzählen? Doch zunächst behutsam, später drängend stellte er sie zur Rede, bis sie endlich sprach und zugab, Geschichten zu erfinden.
„Es spielt doch keine Rolle“, sagte sie, „ob es wahr ist oder nicht. Wenn ich etwas erzähle und es von dir geglaubt wird, dann ist es auch echt. Es ist so einfach, weißt du. Worte werden zu Erinnerungen, die zuvor nicht existierten.“
„Aber du lügst doch, Anna. Mehr ist es nicht.“
„Die Lüge ist nur eine Seite derselben Medaille. Und wie oft ist die Wahrheit sterbenslangweilig?“
„Aber du erzählst Lügen über mich, Anna.“
„Weißt du, wie egal mir das dann ist? Im richtigen Augenblick würde ich auch erzählen, dass du mich betrogen hast.“ Sie lächelte. „Wenn's zur Stimmung passt.“
Das war der Abend, an dem er sie zum ersten Mal ohrfeigte. Anna wehrte sich nicht, schrie nicht, bewegte sich nicht. Sie schien überrascht, wie schnell es ging, und strafte Marcus mit Schweigen für Stunden. Entschuldigen viel später, Beteuerungen, Umarmen, Küsse, Versöhnungs-Sex. Anna weinte nicht und warf ihm nicht vor, sie geschlagen zu haben.
Als wenn sie auf diese Reaktion gewartet hatte und die Überraschung nur gespielt war. Ihn so lange provozierte, bis er zu schlug, weil sie wusste, dass es in ihm schlummerte.
„Wie soll ich dir denn je wieder was glauben, Anna?“ fragte er sie später. Eigentlich glaubte er nicht mehr, was sie sagte, sobald das Erzählte über alltägliche Erfahrungen hinaus ging, und selbst da war er sich nicht sicher.
„Wenn ich dich küsse, musst du mir glauben“, sagte sie, „wenn ich mit dir schlafe, musst du mir glauben. Wenn ich mit dir bin, musst du mir glauben. Den Rest, den brauchst du nicht zu glauben, okay? Aber das. Das Wenige bitte glaube mir, Blank. Das ist echt.“
Damit begann ihr beider Kreislauf.
Eine geschlossene Welt, zu der andere keinen Zugang hatten. Wie Marcus es sich gewünscht hatte, lebten sie nun in einer Welt, die sich von allem unterschied, was er kannte, und geheim war für alle anderen. Ihr eigener, elitärer Club. Das Kiffen verjagte jeden frommen Wunsch zu verändern, denn Kiffen und Liebe, sie vertragen sich nicht.
Eines lügt immer.
Von dem Wunsch sich zu trennen war Marcus entfernt wie die Sonne von Planeten. Er fühlte sich dazu bestimmt, Anna auf ihren Weg zu bringen, ihr das Leben der Lügen auszutreiben, ihr zu offenbaren, dass sie ein wertvoller Mensch war, der keine Geschichten brauchte, um sich interessant zu machen. Denn das, glaubte er, war der eigentliche Grund für ihr Lügen. Sie wollte gemocht werden, und interessant sein (nur die Geschichte von der Erbschaft ihrer Großeltern stimmte, der Rest war Erfindung). Es folgten viele Streitereien, genauso Phasen der Harmonie, in denen alles stimmte, weil der Pegel des Hasches stimmte. Für den sorgte Marcus. Eine Liebe zu dritt.
MARCUS HÄNGT SEINE Jacke an einen Nagel im Flur, der ihm als Garderobe dient. Er ist nicht überrascht, dass Anna in seinem Wohnzimmer auf dem roten Sofa sitzt und einen fertig gedrehten Joint in der
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