Blanks Zufall: Roman
zu laufen anfing. Von ihrem ersten Freund, der versuchte Selbstmord zu begehen und nun seit vier Jahren in der geschlossenen in Ochsenzoll stationiert war (weil er als nicht zurechnungsfähig galt, hatte seine Mutter ihn einweisen lassen). Von der Erbschaft ihrer Großeltern, die sich ein Notar angeeignet hatte, weil er Gesetze zu dehnen wusste („und weil Oma und Opa Juden waren und der Notar das nicht mochte“).
Ihr achtfacher Beinbruch, weil sie als Vierjährige von einem Baum fiel, und die anschließenden Operationen, von denen sie fünfzehn Schrauben in Ober- und Unterschenkelknochen davon trug („ich muss das mal röntgen lassen, dann kann ich dir das zeigen“). Der Grund, warum sie kiffte. Ihre Rezeptoren funktionierten anders als bei den meisten und wenn sie kein THC im Blut hatte, entschleunigte sich ihr Kreislauf bis auf ein Minimum, und ihr Herzschlag setzte schon mehrmals aus.
Mit Staunen und Schrecken lauschte Marcus ihren Geschichten, erzählte weniger von sich je mehr sie erzählte, und war überzeugt von ihrem bewegten Leben. Kerstins Kommentar war nicht der Bruch, den er brauchte um aufzuwachen, aber er hinterließ ein Fragezeichen, das bald ein nagendes Zweifeln wurde. Anna und Marcus waren, offiziell in der Uni und auch überall sonst, fast vier Monate zusammen, als seine Vorstellungen davon, wie etwas war, zu brechen begannen, und die Realität, vielleicht das erste Mal in seinem Leben, ihn mit ihren Klauen umfasste und zu drückte.
Marcus war alleine in der Innenstadt unterwegs, an einem Dienstagsvormittag, wenn es leer ist und die Geschäfte grad geöffnet und die Angestellten noch entspannt und wach vom Kaffee. Er brauchte eine Hose und Unterwäsche, vielleicht auch neue T-Shirts. Es war einer jener Tage, an denen er genug Geld hatte und sich fühlte, dass etwas Neues angeschafft werden musste. In einer neuen Schale fühlte sich das alte Leben gleich erträglicher an.
In der großen Karstadt-Filiale an der Mönckebergstraße, Hamburgs prominentester Konsummeile, traf er auf Kerstin. Die schwarz umrandete Brille und den strohblonden Haarschopf erkannte er sofort, obwohl er sie erst zwei Mal zuvor gesehen hatte. Sie stand in der Parfum-Abteilung, aber nur, weil sie auf dem Weg zu den Fahrstühlen lag, wie sie später erklärte. Auch sie war allein unterwegs, hatte einen Tag frei und suchte ebenfalls nach neuen Kleidern.
Marcus wollte diesen Zufall nutzen, Annas Freundin ein wenig näher kennen lernen und den guten Eindruck, den er bisher zweifellos hinterlassen haben musste, vertiefen. Er wollte von Kerstin gemocht werden, vielleicht auch, weil sie die einzige Freundin war, die Anna ihm bisher vorgestellt hatte. Nach einem kurzen, unverbindlichen Geplänkel lud er Kerstin auf einen Kaffee ein.
Es war seltsam mit einer anderen Frau an der Alster zu sitzen, dem Jungfernstieg gegenüber, von wo man alle fünf Kirchtürme der Innenstadt überblicken konnte, wie sie an verschiedenen Stellen hinter den Häusern hochragten, während sich der Himmel im Wasser spiegelte. Marcus blickte gerade auf die viel befahrene Straße am linken Rand der Alster, befand, dass alles am Tag wie eine schmutzige Spielzeug-Fassade wirkte, als Kerstin meinte, ob sie ihm eine persönliche Frage stellen dürfte.
„Das klingt interessant“, erwiderte er, „ich bin für so was zu haben. Schieß' los.“
Kerstins Gesicht wurde ernst, die oberflächliche Unbekümmertheit war verschwunden und stattdessen wirkte sie irgendwie, nun, bemitleidend.
„Es stimmt doch“, sagte sie, „dass du zauberst, oder?“
Marcus lachte, auch wenn er sich unbehaglich fühlte.
„Das Wort 'zaubern' mag ich nicht so.“
„Also, du machst Kartentricks und so, oder?“
„Ist das jetzt die persönliche Frage?“
„Anna meinte, du machst auch so Mental-Kram.“
„Ach, hat sie das so gesagt?“, was ihn verletzt hätte, zeigte sich Anna doch so angetan bisher von seinem Hobby, denn mehr war es nicht mehr.
„Nein, nein. Sie meinte, dass du die Gedanken anderer Leute lesen kannst, wenn du willst. Klar sind das nur Tricks, wie mit den Karten, ne. Aber sie ist ziemlich beeindruckt.“
„Das freut mich.“ Ihm war es fast peinlich, darüber zu reden. Lieber zeigte er einen Trick, verblüffte seinen Gegenüber, hörte ein erstauntes Raunen und dann wechselte man das Thema. Aber mit solch nackten Worten darüber geredet hatte er bisher noch nie (außer mit Frank, aber den hatte er eine Weile nicht gesehen).
„Ich mein, warum
Weitere Kostenlose Bücher