Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Bücherregale durchlaufend und in diffuser Weise Zwischendecken aus Holz eingezogen waren. Sie war ein Labyrinth des Wissens, das an die 100 000 Bände aus allen Epochen beherbergte. Im Keller gab es ein hochmodernes Archiv mit Feuchtigkeits- und Raumtemperaturregulation für die weltweit einmaligen Inkunabeln und Handschriften. Es hatte bei der Schulführung zwar geheißen, dass die Bibliothek prinzipiell für Schüler zugänglich sei, doch der Klosterbibliothekar tauchte nur alle zwei Monate aus seinem Bibliothekarskabinett auf, um die Räume für die Allgemeinheit zu öffnen, und oft vergaß er diese Aufgabe auch. Johannes hatte den Eindruck, der Klosterbibliothekar hielt sich für den Sherlock Holmes unter den Buchforschern. Er verbrachte seine Tage damit, die Einbände älterer Bücher aufzuschneiden, da diese in früheren Zeiten aus nicht mehr benötigten Schriften hergestellt wurden. Seit er durch dieses Verfahren ein Teilstück des Nibelungenlieds ans Licht gebracht hatte, schien er der Welt vollständig verloren gegangen. Mit hauchdünnen Skalpellen, Pinzetten und sonstigem Konservierungswerkzeug schwelgte er in höchster Konzentration, sodass er tageweise sogar vergaß, an den Messen teilzunehmen. Johannes zog sich von nun an in jeder freien Minute in die Bibliothek zurück. Der Subprior sah darin dreifaches Wohl: Zum Ersten war Johannes glücklich, zum Zweiten war er aus der Schussweite Luftingers, zum Dritten ersparte sich der Subprior ab jetzt seine gelegentlichen Kontrollbesuche in der Klosterbibliothek, die er früher zwischen seinen Spaziergängen eingelegt hatte, um zu sehen, ob der Bibliothekar noch wohlauf war. Das Einzige, das Johannes bei seinem Studium unterbrach, waren gelegentliche Rumser aus dem Bibliothekskabinett. Der Bibliothekar konnte sich in seiner Schatzsuche so sehr verlieren, dass er zeitweise sogar vergaß, Wasser und Nahrung zu sich zu nehmen, und dehydriert umkippte. Hin und wieder klappte er auch vor Übermüdung zusammen, und manchmal wurde er von den Dämpfen der Konservierungsmittel ohnmächtig, wenn er aus Angst vor Windstößen das Fenster nicht öffnete. Der Subprior spendierte Johannes zum Wohl des Bibliothekars sogar einen Erstehilfekurs, den er gemeinsam mit den Novizen absolvierte, die selbigen für einen Führerschein benötigten, um mit der zinnoberroten Audiflotte zur Seelsorge düsen zu dürfen. Johannes wälzte den Bibliothekar von nun an regelmäßig in die stabile Seitenlage, riss die Fenster auf und bespritzte dessen teigiges Gesicht mit etwas Wasser. Pater Jeremias bemerkte dazu:
»Das wird noch im Unheil enden.«
[Die Lossagung vom Kloster, Notizbuch II]
[7.4.] Wie ich bereits ausgeführt habe, geriet das Dorf für einige Jahrzehnte abermals in Vergessenheit, und dies blieb auch dergestalt bis in die Blütezeit des sogenannten barocken Zeitalters, als die ausgezehrten Länder rund um die Alpen mit neuem Leben erfüllt wurden und in ihrem Glauben an den Himmel, den sie auf die Erde zu holen trachteten, erstarkten. [7.5.] Das Lenker Kloster hatte sich bestens erholt, und aufblühend begannen die Mönche also, den Barock nach Lenk zu holen, indem sie das alte, von den Unruhen beschädigte und baufällig gewordene Kloster niederrissen und im barocken Stil neu zu bauen begannen – größer, strahlender, pompöser, als es je gewesen war. [7.6.] Dies gewaltige Vorhaben machte eine nicht minder gewaltige Finanzierung notwendig, und so studierten die Mönche ihre Bücher, bis sie herausfanden, daß es in den Bergen noch so manche der Bergbarbaren gab, die dem Kloster abgabenpflichtig waren und nun seit Jahrzehnten nicht mehr gezahlt hatten. [7.7.] Sofort machten sich die Mönche auf, um diese Tribute einzuholen. Es berichten aber die Geschichtsschreiber beider Seiten, daß die Bergbarbaren nicht sonderlich erfreut waren, wieder Abgaben zahlen zu müssen, da sie wohl, während der Zeit, als sie nicht zahlten, festgestellt hatten, daß dieser Zustand vorzuziehen sei. So ergriffen die Bergbarbaren also ihre Heugabeln und Dreschflegel und jagten jene Mönche, die Geld eintreiben wollten, unter Androhung von gar allzu großem Schmerz, den sie ihnen an unheiligen Körperstellen zuzufügen trachteten, die Dorfstraße hinab. [7.8.] Die Mönche nahmen nach jenem Vorfall davon Abstand, sich wieder in die höher gelegenen Siedlungen der Bergbarbaren zu begeben, und vertrauten darauf, daß sich nach jener Ketzerei und der erlittenen Schmähung die Hölle auftun würde, um
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