Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
hatte, zu kontrollieren, ob die Aufzählung korrekt war. Ohne eine Pause zu machen, schwenkte er weiter zu den Merkmalen von Kroisos’ Herrschaft, referierte über dessen Machtgier, brachte einen kleinen Exkurs zu seinen Kriegsführungsstrategien inklusive genauer Beschreibung der Reiterei, für die die Lyder berühmt gewesen waren und die Kyros schließlich durch Kamele ausgetrickst hatte.
»Und was hat es mit dem Wort Solon auf sich? Wieso rief Krösus das auf dem Scheiterhaufen?«, fiel der Professor ein, als Johannes gerade Atem holte, um über das Weiterleben des Kroisos’ nach dem Tod seines Sohnes zu erzählen. Johannes referierte weiter:
»Solon lebte in Athen zur selben Zeit wie Kroisos, wo er den Bürgern eine Verfassung gab. Auf der darauf folgenden Wanderschaft kam Solon nach Sardes, der Hauptstadt des damaligen Lyder-Imperiums. Jedenfalls waren die Schatzkammern des Kroisos aufgrund seiner expansiven Außenpolitik zu dieser Zeit sehr gut gefüllt, er hatte einen prächtigen Sohn, eine schöne Frau, und sein Reich florierte. Da Kroisos aber auf Bestätigung des berühmten Atheners aus war, führte er ihn überall herum und wollte schließlich wissen, wen Solon als den glücklichsten Menschen der Welt bezeichnen würde. Solon nannte jedoch wider Kroisos’ Erwarten nicht Kroisos selbst, sondern Kleobis und Biton, zwei starke Argiver, die ihre Mutter auf einem Wagen in den Tempel der Hera zogen, damit diese die Feierlichkeiten abhalten konnte. Die Mutter erbat daraufhin von Hera das größte Glück, das dem Menschen zuteilwerden kann, für ihre Söhne, woraufhin beide nach dem Festmahl im Tempel einschliefen und nie wieder aufwachten. Dass zwei einfache Bürger glücklicher gewesen sein sollten als er, machte Kroisos fuchsteufelswild, woraufhin er Solon wütend anschrie. Dieser entgegnete ihm gelassen, dass man immer erst das Ende abwarten müsse, um rückblickend das Ganze beurteilen zu können, weswegen es ihm unmöglich sei, je einen Sterblichen glücklich zu preisen.« Johannes lehnte sich zufrieden in den Stuhl zurück.
»Um es mit unseren Worten zu sagen, Kroisos hat am Ende begriffen, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll«, fügte er hinzu und streckte seine Arme auf dem grünen Tischtuch aus.
»Um was für eine Textsorte handelt es sich bei der Geschichte, die Sie uns soeben referiert haben, um auf die Fragestellung zurückzukommen?«, fragte Luftinger ungeduldig weiter.
»Das ist Historiografie, zu Deutsch Geschichtsschreibung.« Plötzlich ließ Luftinger seine Augenbrauen über den roten Brillengestellen nach oben schnellen und sagte:
»Nein. Das ist nicht korrekt. Historiografie bedeutet die Aufzeichnung von geschichtlichen Fakten. Die Geschichte, die Sie uns zum Besten gegeben haben, war ein illustratives Märchen.«
»Nein!«, rief Johannes mit lauter Stimme und voller Überzeugung, »Sie kennen sich ja nicht aus.«
Er vermutete, dass ihn Luftinger mit einer Fangfrage verunsichern und bloßstellen wollte, doch dazu wollte er ihm keine Gelegenheit geben.
»In den Historien von Herodot findet sich diese Passage im ersten Buch, Vers neunundzwanzig bis vierunddreißig. Schlagen Sie es nach!« Johannes kümmerte es nicht, dass die ganze Maturakommission ihre Augen ungläubig auf ihn gerichtet hatte. Demonstrativ verschränkte er die Arme. Er war im Recht, und das konnte er beweisen.
»Wollen Sie etwa behaupten, die Historien berichten von geschichtlichen Fakten?«, fragte Luftinger spöttisch, und Johannes bemühte sich, in ebenso spöttischem Tonfall zu antworten:
»Natürlich. Was denn sonst?«
Luftinger seufzte.
»Herr Irrwein, Ihnen ist vielleicht entgangen, dass Herodot höchst umstritten und zweifelhaft ist. Krösus lebte von 591 bis 540 v. Chr., Solon von 640 bis 560 v. Chr. Krösus herrschte nachweislich zu einem Zeitpunkt, als Solon bereits tot war.«
Johannes bebte förmlich vor Ärger.
»Das ist ja Blödsinn. Herodot war der beste Geschichtsschreiber und Historiker aller Zeiten. Was Herodot sagt, ist historisch verbrieft.«
Beim letzten Wort knallte Johannes seine Faust auf den Tisch. Plötzlich herrschte Stille. Der Subprior stand mit offenem Mund am anderen Ende des Tisches, und hinter Johannes hatten sich all die Schüler, die gerade zur Vorbereitung im Saal waren, auf ihren Plätzen umgedreht. Der Vorsitzende rutschte auf seinem Sessel hin und her, ihm war die Situation überaus unangenehm. Zwischen Johannes und Luftinger, die sich genau
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