Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Geographie, sondern durch die gemeinsame Geschichte markiert, die zu gemeinsamen Werten, Vorstellungen und Erinnerungen führt und die Menschen zu einem Volk formt. [14.2.] Ich nämlich meine, daß sich die Bergbarbaren mit diesem eigenverursachten Messerschnitt vom Rest der Welt abgetrennt und zu einem eigenen Volk gemacht haben, mit eigener Geschichte, eigenen Vorstellungen, Erinnerungen und Werten, die sich dadurch definieren, nicht zum Rest der Alpenrepublik zu gehören.
Von der andren Fakultät
In der Nacht vom dritten auf den vierten September 2010 wälzte sich das ganze Dorf unruhig in den Betten. Man konnte beobachten, wie immer wieder Lichter angingen: Manche tapsten auf die Toilette, andere bekamen Nachthunger, einige holten sich ein Glas Wasser. Fast alle Einwohner waren in die Organisation eingebunden, und in der Nacht vor der Anreise der Gäste merkten die St. Petrianer, dass es einen Unterschied machte, ob man für Nachbarn, Freunde und Verwandte etwas organisierte oder für Fremde, die von weither anreisten. Marianne Rettenstein zum Beispiel sorgte sich um ihre Kuchen. Wenn diese bisher der Nachbarin nicht geschmeckt hatten, hatte sie sich einreden können, die Nachbarin sei neidisch auf ihre Backkünste – doch wenn sie den Gästen nicht schmeckten, bedeutete dies, dass ihre Kuchen tatsächlich nicht gut waren. Die Dorfmädchen telefonierten bis spät in die Nacht miteinander, überlegten, welche Outfits sie anziehen sollten. Um die Dorfburschen zu beeindrucken, hatten sie sich noch nie so viel Mühe gegeben, denn die liefen ihnen nicht davon, fremde, hübsche Männer jedoch musste man mit dem ersten Wimpernaufschlag vereinnahmen, sonst wären sie wieder weg. Auch die vier alten Herren hielten die Nacht nicht in ihren Betten aus, wenngleich sie nicht involviert waren. Opa Ebersberger ging zwischen eins und zwei eine nächtliche Runde mit seinen Hunden auf dem Dorfplatz, ließ sie in Reih und Glied antreten, obwohl die Hunde, müde und verschlafen, wie sie waren, kaum geradeaus marschieren konnten. Opa Ebersberger fuhr sie scharf an und versuchte, wenigstens die Kontrolle über seine Tiere zu bewahren, wenn es schon schien, als schwände die Kontrolle der Eminenzen im Dorf. Auch der Pfarrer, der ebenso wenig in das Spektakel involviert war, konnte nicht schlafen. Düstere Untergangsvisionen spielten sich vor seinem inneren Auge ab, und er hatte Albträume von in St. Peter einfallenden Dämonen und Teufeln mit Totenkopfschädeln. Als in seinen Träumen sogar die apokalyptischen Reiter den Angerberg hinaufgaloppierten, weckte er um kurz nach drei Uhr Grete und Egmont auf, um in der Kirche eine Messe für die dem Untergang geweihten Seelen seiner Gemeinde zu lesen. Während dieser Messe beschloss er, Johannes A. Irrweins Bitte nachzukommen, eine Spielersegnung abzuhalten. Er würde einen vollen Bottich Weihwasser mitnehmen, und sollten die gegnerischen Spieler mit dunklen Mächten in Verbindung stehen, würde ihre Haut bei der Berührung mit Weihwasser verätzen. Der Einzige, der in dieser Nacht nicht an St. Pauli dachte, war Peppi Gippel. Er lag neben Maria, hatte die Hand auf ihrem Bauch und spürte die aufgeregten Tritte der kleinen Fußballer. Peppi dachte nicht an morgen oder übermorgen, sondern an die Zukunft. Er bemühte sich, keine Angst zu haben, und dennoch wurde ihm mehr und mehr bewusst, dass das, was ihm bevorstand, kein Spiel mehr war.
Johannes las in dieser Nacht endlose Male seine Aufzeichnungen durch. Er kontrollierte, ob er auch nichts vergessen hatte, ob alles vorbereitet war, und als er damit fertig war und nicht mehr wusste, was er noch tun sollte außer schlafen und hoffen, fiel ihm ein, woran er in den letzten Monaten nicht mehr gedacht hatte, was er bei all der Aufregung vollkommen vergessen hatte: seine Matura. Er warf vor Schreck einen Blick in den Kalender, doch da stand es schwarz auf weiß: Am Montag nach dem Spiel war der Termin für seine Nachprüfung, und er hatte in drei Monaten nicht eine Sekunde lang die Nase in seine Unterlagen gehalten. Natürlich war er nach wie vor der Meinung, dass er das im Prinzip auch nicht nötig hatte und den Stoff gut genug beherrschte, dennoch bekam er Schuldgefühle, nicht zumindest einen Nachmittag für das Durchlesen seiner Aufzeichnungen aufgewendet zu haben. Johannes gähnte. Er suchte im Schrank seine Mappe, setzte sich auf das Bett, schlug sie auf und begann zu lesen. Kaum hatte er den dritten Absatz
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