Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
glaubst’n, bin i immer so ruhig«, einen Joint anbot, als er die alten Männer, die man in seltsame, überzogene Trachten gesteckt hatte, nach wie vor auf der Kirchenstiege schlummern sah, währenddessen sich die Gäste zum Andenken mit ihnen fotografieren ließen, und vor allem als der Bürgermeister um elf Uhr die neue Großraumdisco im Keller des Wirtshauses eröffnete, indem er lauthals verkündete:
»Na dann lassts uns tanzn, bis den Mädls de Duttln aus den Dirndln hupfn!«
In St. Petris erste Großraumdisco wollte Johannes auf keinen Fall, doch auf der Flucht kamen ihm die Fußballer entgegen, die sich beim Organisator des größten Tages ihres Lebens bedanken wollten und das nun taten, indem sie Johannes hochhoben und wie eine Trophäe ins Wirtshaus trugen.
Kaum hatten sie ihn mitten auf der Tanzfläche hinuntergelassen, wurde er mit Sekt bespritzt, und plötzlich verstummte die Musik. Johannes rang nach Atem.
»Bürgerinnen und Bürger, erhebts eure Glasln!« Der Bürgermeister sprach abermals: »Am heutigen Tag, dem 4. 9. 2010, hat da FC St. Peter net nur vier Tor gegen den FC St. Pauli g’schossen, sondern ist hiazn ka Kleindorf mehr, sondern a Großdorf! De Maria Rettenstein hat um 23 : 07 den 498sten, um 23 : 21 den 499sten und um 23 : 48 den 500sten St.-Petri-Bürger auf’d Welt bracht, und ollen geht’s guat!«
Johannes würde sein Leben lang nie wissen, wie er die Ereignisse dieser Nacht beschreiben sollte. Und schließlich musste er verstehen, dass es auf dieser Welt Dinge gibt, die nicht beschrieben werden wollen. Dinge, die man miteinander erlebt und erinnert, die passieren und etwas verändern. In dieser Nacht war es ein Gefühl, das von allen geteilt wurde. Hände wirbelten herum, Sektkorken knallten, Musik trug die Menschen fort, Kleidungsstücke wurden verschenkt, Brillen wechselten die Besitzer, Hüte wanderten durch die Räume, die Kinder tanzten im Kreis, die Älteren schlugen mit ihren Gehstöcken den Takt, weiße Taschentücher regneten wie Schneeflocken von der Decke, plötzlich waren manche kostümiert, dicke Männer wurden zu Superhelden, die Volksschullehrerin zur Prinzessin, Frau Moni tanzte mit ihrem Hündchen, Wasserpistolen waren mit Wein geladen, Blumenbestäuber mit Schnaps, Konfetti überall, Sternspritzer, manche Männer hatten so viele Lippenstiftküsse im Gesicht, dass man sie nicht mehr erkannte, manche Frauen auch, Schuarl hatte sich einen Lebenstraum erfüllt und sich mit Bodypaintingfarbe am ganzen Körper orange anmalen lassen, und Robert Rossbrand tat spätnachts etwas, von dem er sein Leben lang geträumt hatte; er flitzte nackt durch die feiernde Menge.
Auch Johannes atmete die Luft der Wirtshausdisco ein, wurde von der Euphorie erfasst und fand sich endlich dort, wo er sich sein Leben lang hingewünscht hatte: mitten in der Antike, auf einem Fest des Dionysos, wo im ausgelassenen Rausch der Kult des Weingottes gefeiert wurde. Johannes trank, nachdem er die Nachricht von der wundersamen Geburt erfahren hatte, eine Flasche Sekt, die man ihm reichte, in vier Zügen leer und schrie, so laut er konnte:
»Selig, wer im hohen Glück um der Götter Weihen weiß, wer sich – das Haupt mit Eppich bekränzt – ganz dem Dienst des Dionysos weiht!«
Johannes schloss die Augen, drehte sich einmal um die eigene Achse, und als er die Augen wieder öffnete, tauchte aus den Schwaden der Nebelmaschine Simona auf. Sie hatte ihr Haar zu dicken roten Zöpfen geflochten und trug eines jener modernen Dirndl, die es nur in der Stadt zu kaufen gab, wo niemand Dirndl trug. Zielsicher steuerte sie auf Johannes zu, legte ihre Hände um seinen Hals und hauchte ihm zärtlich ins Ohr:
»Dieses Spiel heut war echt verdammt cool. Und das Youtube-Video ist das süßeste, was je ein Mann für mich gemacht hat. Also feiern wir für deinen Weingott!« Johannes lächelte und schüttelte den Kopf.
»Wir zwei feiern heut nicht nur für Dionysos, wir feiern die Liebesgöttin.«
Und daraufhin küssten sie sich so lange, bis um sie herum alle tanzten und sie keine Wahl mehr hatten, als mitzutanzen.
Montag, der 6. September 2010, war in jenem Jahr der erste Herbsttag in Lenk am Angertal. Nach einem verregneten Sonntag, an dem ganz St. Peter seinen Rausch ausgeschlafen hatte, hatte sich der Himmel am Montag zwar aufgeklart, doch die frische Luft ließ keinen Zweifel mehr daran, dass es von nun an stetig kühler würde. Die Kastanienallee zwischen
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