Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
gehört zu haben, war Pflicker verschwunden. Es gab Gerüchte, er sei mit den FC – St.-Pauli-Fans nach Hamburg gefahren, und Johannes stellte fest, dass er sich auf der ganzen Welt keinen besseren Job für Günther Pflicker vorstellen konnte, denn als Türsteher vor einem Klub oder Bordell auf der Reeperbahn, im schwarzen Muskelshirt mit verschränkten Armen, Goldketterl und grimmigem Blick.
Da der alte Gelenkbus, mit dem er acht Jahre lang zwischen Schule und Dorf gependelt war, am Tag seiner Matura ein für alle Mal den Geist aufgegeben hatte, fuhr Johannes zum ersten Mal im modernen, wendigen, leisen Bergbus zurück, der sogar über eine Klimaanlage verfügte und dessen Sitze nach frischer Farbe rochen. Er staunte, als er den geänderten Busfahrplan las. Die Fahrtzeit hatte sich durch den leistungsstarken Motor halbiert, und dementsprechend wurden nun statt drei täglich sechs Fahrten zwischen Lenk und St. Peter angeboten.
Vom Bus aus winkte Johannes den St. Petrianern zu, die mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Einige winkten zurück, andere waren so beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Drei Bauern jagten mit Eimern und Schwämmen in der Hand ihre Kühe, die sich die aufgesprühten Graffiti nicht abwaschen lassen wollten. Schuarl beseitigte am Straßenrand einige Scherbenteppiche, er war noch ganz orange im Gesicht, und Johannes überlegte, ob die Farbe so schwer abwaschbar war – doch dann vermutete er, dass Schuarl seine neue Hautfarbe gefiel und er auf das Waschen absichtlich verzichtet hatte. Am Dorfplatz stieg Johannes aus und beobachtete, wie Egmont versuchte, auf das Dach des Kirchturmes zu klettern. Er hatte sich mit bunten Bändern, die aussahen wie Ministrantengürtel, festgebunden und versuchte, einen Büstenhalter vom Kirchturm zu entfernen. Auf dem Weg nach Hause überlegte Johannes lange, wie bloß der Büstenhalter dorthin gekommen war.
Liebe zivilisierte Freunde! Ich danke Euch für Euren Brief, der mich sensationellerweise nur vier Tage nach seinem Poststempeldatum erreichte, was einen neuen Geschwindigkeitsrekord für den Postweg nach St. Peter bedeuten dürfte. Leider muß ich Eure Einladung, mit Euch den altgriechischen Eröffnungsabend am Institut für Klassische Philologie anzuhören, ablehnen. Es hätte mich zwar sehr interessiert, jene Wissenschaftler kennenzulernen, die die Epen Homers auswendig und sogar mit aus Schildkrötenpanzer nachgebauten Instrumenten singen können, doch ich hoffe, daß sich in einem halben Jahr dafür noch Gelegenheit bieten wird. Wisset, meine lieben Freunde, ich habe beschlossen, noch eine Weile hier im Dorf zu bleiben, da ich entdeckt habe, hier gebraucht zu werden. Ich möchte meine Freunde Peppi Gippel und Maria Rettenstein in den ersten Monaten ihrer Triplex-Elternschaft unterstützen, zudem wird es noch diesen Monat eine Volksversammlung geben, bei der über die Weiterentwicklung des Dorfes entschieden wird. Peter Parseier, mein ehemaliger Fußballtrainer, hat seine negativen ehrgeizigen Energien umwandeln können und will Pläne zur touristischen Nutzung des Ortes präsentieren. Zur Diskussion stehen Rafting im Mitternfeldbach, ein Skigebiet am Sporzer Gletscher, Ökotouren, Urlaub auf dem Bauernhof und ein Wellnesszentrum. Offenbar fand sich sogar ein Hamburger Investor, der von jenem Fest nach dem Spiel mehr als nur beeindruckt war. Wie auch schon Herodot sagte:
Τὰ γὰρ τὸ πάλαι μεγάλα ἦν, τὰ πολλὰ αὐτῶν σμικρὰ γέγονε· τὰ δὲ ἐπ’ ἐμέο ἦν μεγάλα, πρότερον ἦν σμικρά. Τὴν ἀνθρωπηίην ὦν ἐπιστάμενος εὐδαιμονίην οὐδαμὰ ἐν τὠυτῷ μένουσαν – »Denn viele [Orte] waren früher groß, von denen viele klein wurden. Die aber, die zu meiner Zeit groß waren, waren früher klein. Denn das menschliche Glück verbleibt, wie ich weiß, niemals im selben Zustand.« Und dem habe ich als Geschichtsschreiber Rechnung zu tragen.
Versteht, daß ich mich in den letzten Monaten nur darauf konzentriert habe, die Eigenheiten und Sitten meiner Bergbarbaren zu erforschen. Nun aber bin ich bereit und vor allem auch reif, mich an die eigentliche Arbeit des Historiographen zu machen, und zwar: die Vergangenheit zu erforschen.
Seid mir gegrüßt, Euer Johannes, qui modo Herodoti, patris historiae, barbaros montes inhabitantes explorabit, St. Peter am Anger, a. d. VIII Id. Sept.
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