Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Motor eines alten Gatschhupfers zu einem Raketenantrieb umzubauen, war damit nie weiter gekommen, als das Gasventil zu überbrücken, sodass der Motor, einmal eingeschaltet, ständig beschleunigte. Die St.-Petri-Burschen parkten ihren Wagen in sicherer Entfernung, schlichen mit der Seifenkiste abseits des Dorfplatzes auf ein höher gelegenes Plätzchen und starteten den Motor, der furchtbaren Lärm machte. Kaum heulte er auf, schreckten die Bewacher aus dem Schlaf, schreiend, nervös schauend, wo sich die Eindringlinge versteckten. In diesem Moment ließen die St.-Petri-Burschen die Seifenkiste losrasen. Sie bretterte bergab an der Kirche und ganz nah an den Bewachern vorbei, aber nicht nah genug, als dass diese hätten sehen können, dass die Passagiere drei Strohpuppen mit Helmen waren. Wie es Alois vorausgesehen hatte, sprangen die St. Michaeler auf ihre Gatschhupfer, um die Seifenkiste einzufangen. Und während die St. Michaeler die Seifenkiste jagten, konnten Alois und seine Freunde in aller Ruhe den Maibaum stürzen. Sie verteilten sich entlang des Stammes, hoben ihn gemeinsam an, und mit Alois an der Spitze verschwanden sie im Gänsemarsch in der sicheren Dunkelheit des Waldes, wo Fritz Ebersberger beim Holzanhänger auf sie wartete. Ohne Worte, aber mit stolzem Grinsen im Gesicht packten die Burschen die Schnapsflaschen aus und fuhren langsam und leise mit ihrer Beute davon.
Bereits am nächsten Tag war Alois Irrwein der Held St. Peters. 1934 war es der damals schlanke Altbürgermeister Friedrich Ebersberger sen. gewesen, der die letzte erfolgreiche Entwendung des St. Michaeler Maibaumes angeleitet hatte, indem er den St. Michaeler Maibaumbewachern eine Kiste Adlitzbeerenschnaps als Freundschaftsgeschenk hatte zukommen lassen, woraufhin in der Nacht alle so tief geschlafen hatten, dass sie nicht einmal mitbekommen hätten, wenn man ihnen die Frauen geraubt hätte. Der Ruhm, den Ebersberger durch diesen Diebstahl erlangte, hatte die Bürgermeisterherrschaft der Familie begründet, die nun bereits in der zweiten Generation andauerte. Alois strebte zwar kein Bürgermeisteramt an, doch er badete in öffentlichem Ansehen. Es war für den Rabauken eine neue Erfahrung, gelobt anstatt getadelt zu werden. Und, was ihm am wichtigsten war: Er konnte sehen, wie Ilse dahinschmolz. Sie ärgerte sich zutiefst, ihr Glück bei Reinhard versucht zu haben, der Angelika Ötsch zum Maibeginn eine Kette Knutschflecken geschenkt hatte. Ilse biss sich vor Wut stündlich in die Faust und grämte sich, ihre Chance bei Alois verspielt zu haben, denn sie vermutete, dass Alois viel dunklere Knutschflecken saugen könne als Reinhard.
Johannes Gerlitzen war der Einzige, der Alois nicht die Schulter tätschelte. Er schrieb in diesen Tagen an einem Artikel über die Entfernung von Spulwürmern, um den ihn ein Ärztemagazin gebeten hatte. Johannes war unlängst von einem Kollegen im Lenker Krankenhaus zu Hilfe geholt worden, da man dort einen Patienten in Behandlung hatte, dessen Darm so voller Spulwürmer war, dass alle verabreichten Antihelminthika keine Wirkung gezeigt hatten. Johannes hatte daraufhin einen invasiven Eingriff in Form einer Darmspiegelung durchgeführt. Dabei hatte er die Würmer mit einem Greifarm am Kopf des Endoskops erfasst und durch den After entnommen, was in Fachkreisen großes Aufsehen erregt hatte. Er war derart vertieft in die Abfassung seines Berichts, dass ihm entging, wie Alois Irrwein an Ilses Fenster zurückkehrte und seine Bemühungen umgehend erhört wurden.
Johannes Gerlitzen erfuhr als Letzter im Dorf von der Liebe seiner Tochter zu Alois Irrwein. Ein weiterer Brauch zu Frühjahrsbeginn war das Maistrichziehen. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai zog die Dorfjugend eine weiße Linie aus Kalk, gemischt mit Benzin, vom Haus eines Mädchens zum Haus eines Burschen, die ineinander verliebt waren, sich aber noch nicht öffentlich dazu bekannt hatten. 1975 gab es in der Dorfjugend keine Sekunde lang Diskussionen, wem man die Ehre eines Maistriches erweisen solle.
Johannes Gerlitzen entdeckte das weiße Herz vor seinem Haus, in dessen Mitte mit einer Gießkanne I. G. gegossen war, erst am späten Vormittag, als er beim Schreiben seines Aufsatzes stockte und etwas im Garten spazieren wollte. Wie angewurzelt stand er in der Einfahrt und erinnerte sich an seine Jugend. Elisabeth und er hatten im Jahr 1954 einen Maistrich bekommen, und es war allseits bekannt, wie das geendet hatte.
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