Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
wurde das Dorf von den Sporzer Alpen begrenzt, deren Hauptkamm aus Gletschergipfeln so unwirtlich war, dass keines der Dörfer rundum je Anspruch auf dieses Bergmassiv gestellt hatte. Westlich erhoben sich Berge, die noch von Urwald überwuchert waren und weit im Osten, fast außerhalb des Tales, lag ein Dorf namens Strotzing, mit dem die St. Petrianer seit dem Mittelalter keinen Kontakt pflegten. Der einzige Ort, dessen Gemeindegrenze direkt mit St. Peter zusammentraf, war Lenk im Angertal. Lenk hatte trotz seiner bescheidenen Einwohnerzahl den Rang einer Stadt, allerdings wusste die gesamte Alpenrepublik, dass dies nur so war, damit es in den Landkarten der Hochalpen wenigstens einen roten Punkt gab, der auf Kultur und Zivilisation hindeutete. St. Peters Lieblingsfeinde waren nicht die Lenker – den Kleinstädtern gingen die Bergbewohner aus St. Peter bevorzugt aus dem Weg –, sondern die Bewohner von St. Michael am Weiler. Der Weiler lag dem Angerberg gegenüber, war fast gleich hoch, als wäre er an der Stadt Lenk gespiegelt worden. Die Jugend beider Dörfer hatte in jenen Nächten vor dem ersten Mai viel damit zu tun, den eigenen Baum zu beschützen und den Baum des anderen Dorfes zu stehlen. Die Tradition verlangte, dass ein gestohlener Maibaum durch Naturalien wie Bier, Schnaps oder Schinken ausgelöst werden musste, und wenn das bestohlene Dorf dem nicht nachkam, wurde der gestohlene Baum auf dem eigenen Dorfplatz aufgestellt und mit zahlreichen Tafeln versehen, die darauf hinwiesen, dass die Nachbarn Mist aßen, mit ihren Schafen verkehrten oder so dicke Hintern hatten, dass sie ihre Häuser nicht verlassen konnten. Woher dieser Brauch kam und was er zu bedeuten hatte, wusste niemand, aber er bot eine gute Gelegenheit, Feindschaften zu pflegen. In den Nächten der Wache hatten die frisch verliebten Paare zudem die Chance, sich im Schutz der Dunkelheit und ohne elterliche Überwachung näherzukommen. Alois Irrwein, der Anführer der Räubergruppe, beschloss, dass es in dieser Saison Zeit für seinen Superplan war, den er schon seit zwei Jahren ankündigte. Obwohl sämtliche Raumfahrtspläne aufgegeben worden waren, hatte Alois die Materialien seiner erfolglosen Mission aufbewahrt. Von der Seifenkiste, die nie ein Raumschiff geworden war, bis zu diversen Laborgegenständen, die er Johannes Gerlitzen entwendet und nie verwendet hatte, hatte er alle Überreste in einem der Abstellräume der Zimmermannswerkstatt gehortet. Nun war es an der Zeit, ihnen neues Leben einzuhauchen.
In St. Michael, das in den Augen der St. Petrianer immer einen Tag hinterherhinkte, wurde der Maibaum erst am Montag aufgestellt. Den ganzen Tag bastelte und schraubte Alois, um gegen drei Uhr, vor der Morgendämmerung, mit seinen Gefährten nach St. Michael aufzubrechen. Fritz Ebersberger, der Bürgermeistersohn, der trotz seiner neunzehn Jahre bereits die gleiche Leibesfülle wie sein Vater und Großvater hatte und daher im Sitzen am nützlichsten war, fuhr das Auto. Drei weitere Burschen saßen ihm zur Seite, während Alois und seine Spezialeinheit Georg Ötsch, Markus Kaunergrat und Toni Rettenstein im Holzanhänger hockten, den sie sich vom Tischler Ötsch ausgeborgt hatten. St. Michael am Weiler lag nicht wie St. Peter gleichmäßig um einen Dorfplatz gebaut, sondern die Häuser verstreuten sich großräumig am Weilerberg. Dieser Berg war steiler und schloss im Gegensatz zum Angerberg nicht mit einem Plateau, sondern mit einem Gipfel ab. Die St. Michaeler waren darauf sehr stolz – sie meinten auf einem richtigen Berg zu wohnen –, doch die St. Petrianer ignorierten ihre Prahlerei, sie hatten eindeutig die bessere Bodenbeschaffenheit und nicht so viel abschüssiges Feld. Der Dorfplatz war wie der Rest von St. Michael talwärts geneigt. Der Maibaum stand direkt neben der Kirche, rundherum lagerten St. Michaels Bewacher. Wie Alois vorhergesehen hatte, waren sie um diese Uhrzeit eingeschlafen. In früheren Jahren hätten sie die Situation ausgenutzt und versucht, den Maibaum neben den Schlafenden zu Fall zu bringen, um im Trubel der Überraschung abzuhauen – das hatte allerdings seit 1934 nicht mehr funktioniert, sondern Jahr für Jahr mit gebrochenen Nasen und melanzanifarbenen Blumenkohlohren geendet. Dieses Jahr hatte Alois geplant, die Gunst der Verwirrung zu nutzen, auch wenn das bedeutete, die Seifenkiste zu opfern. Richard Patscherkofel, der damals damit beauftragt gewesen war, den
Weitere Kostenlose Bücher