Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
schon plapperte Marianne los:
»Da Rossbrand Reini hat de Ilse sitzn lassn und is hiazn mit da Angelika Ötsch zammen.« Daraufhin bekam sie eine Salbe, etwas Süßes und durfte nach Hause gehen.
Die ohnehin schon enorme Gefühlsgravität, in der sich ein pubertierendes Kind befindet, wird noch um einiges schlimmer, sobald es in Interaktion mit dem anderen Geschlecht tritt. Eine jede Liebe ist die große, eine jede Enttäuschung der Weltuntergang. Glücklicherweise hat die Natur auch hier ein Selbstreglement, indem die Pubertät endlich ist, notierte Johannes daraufhin und versuchte auf verschiedene Arten, zu Ilse durchzudringen, doch sie zeigte sich unnahbar. Er wollte nur das Beste für seine Tochter und dachte, dies wäre, sie in Ruhe zu lassen, bis die Pubertät abgeklungen wäre – aber der Frühling kam ihm in die Quere. Mädchen und Buben, die einander noch im Herbst beschimpft hatten, liefen händchenhaltend durch das Dorf, und Ilse musste jeden Tag schmerzlich mitansehen, wie Reinhard Rossbrand die nebenan wohnende Angelika zu Spaziergängen abholte. Währenddessen spürte Alois Irrwein, dass seine Stunde geschlagen hatte. Doch anstatt wieder fensterln zu gehen, änderte er seine Taktik und verhielt sich, als wollte er plötzlich nichts mehr von Ilse wissen. In jenen Frühlingstagen, in denen die Hormone die Burschen verrückt machten, begehrte Alois Ilse in Wahrheit heftiger denn je. Als er sie nach der Kirche in ihrem Dirndl sah, nach der kalten Jahreszeit das erste Mal ohne Strickweste über dem Dekolleté, staunte er, wie ihr Busen unter den Winterpullovern gewachsen war. Dennoch bemühte er sich, ihr gegenüber gleichgültig zu wirken. Alois wusste, dass der Kosmos auf seiner Seite war. Mitte April waren fast alle Burschen bereits vergeben. Ilse, die wegen des Intermezzos mit Reinhard Rossbrand wertvolle Zeit im Wettkampf der Partnersuche verloren hatte, begann den Gruppendruck zu spüren, als einziges Mädchen in ihrem Jahrgang noch keinen Freund zu haben. Und in St. Peter am Anger war die Zahl der hübschen Burschen begrenzt. Sogar ihre beste Freundin Marianne Ebersberger hatte kaum noch Zeit für sie, ständig traf sie Toni, den ältesten Rettensteinsohn. Die vergebenen Mädchen durften ins Wirtshaus gehen, da sie nun einen Bursch hatten, der sie mitnahm. Nur Ilse saß abends zu Hause und ärgerte sich, Alois verschmäht zu haben, den sie umso interessanter fand, je mehr er sie zurückwies.
Der Höhepunkt des Frühlings waren die letzten drei Apriltage oder besser gesagt deren Nächte. In St. Peter am Anger gab es einen Brauch, der auch in anderen Kleindörfern der Alpen weit verbreitet war: das Maibaumaufstellen. Rechtzeitig zum letzten Vollmond vor Monatsende führten die Bauern Waldbegehungen durch. Jedes Jahr war es ein langer Entscheidungsprozess, welcher Nadelbaum groß und schön genug war, um als Maibaum den Dorfplatz zu zieren. Dieser wurde schließlich bei Mondhöchststand gefällt und bis zum Aufstellen in der letzten Aprilwoche im Wirtschaftshof des Gemeindeamtes zum Trocknen unter die Pergola gelegt, wo normalerweise der Schneepflug und andere Gemeindearbeitsfahrzeuge standen. 1975 fiel der erste Mai auf einen Donnerstag, und da der Sonntag davor ein beinah sommerlicher, pittoresker Tag war, wurde unmittelbar nach dem Gottesdienst der Baum aufgestellt. Die Frauen hatten den Baum tags zuvor mit bunten Bändern geschmückt und einen großen Kranz aus Tannenreisig geflochten, den man um den Wipfel hängte. Eine Prozession mit Blasmusik und allen Dorfbewohnern in Festtagstracht – außer Johannes Gerlitzen, der das Auge eines Fuchses zerschnitt, in welchem sich Spulwurmlarven eingenistet hatten – begleitete den Baum vom Gemeindeamt auf den Dorfplatz, wo er mit Hilfe von Leitern und Stangen aufgestellt wurde. Den letzten Schliff verlieh ihm eine Spruchtafel auf Augenhöhe, die der Bürgermeister annageln durfte: Mein Dorf, das die Tradition in Ehren hält / hat mich mit vereinten Kräften aufgestellt. / Betrachte mich genau und denke daran, / daß einer allein nichts erreichen kann.
Danach gab es einen Frühschoppen, mit Bierkrügen wurde bis Sonnenuntergang den Aufstellern zugeprostet, und bei Einbruch der Dämmerung begann die Wache. Der Tradition folgend, versuchten die jungen Männer der benachbarten Dörfer vom Tag des Aufstellens an bis zum ersten Mai, einander die Maibäume zu stehlen. Unmittelbare Nachbarn hatten die St. Petrianer nicht. Nördlich
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