Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
verbrachte nun mehr Zeit auf Reisen. Er reiste zu allen möglichen Wurmkongressen, und nicht immer, weil ihn das Thema interessierte, sondern meist bloß, um aus St. Peter herauszukommen. Ilse hingegen war ihm böse, dass er bei der Hochzeit kein einziges Wort mit Alois gewechselt, sondern ihn von der Kirchenbank aus mit bösen Blicken beobachtet hatte, und so lebte sie ihr Leben fortan als Ilse Irrwein und in der Meinung, ihren Vater nicht nötig zu haben. Bis sie feststellte, dass Alois’ Familie noch furchtbarer war als ihre eigene. Da Alois und Ilse kein eigenes Haus, geschweige denn Baugrund hatten, waren sie vorübergehend im Obergeschoss von Alois’ Eltern eingezogen, um Geld zu sparen und später selbst zu bauen. Das Haus war groß genug für zwei Familien, doch Alois’ Mutter entpuppte sich als der agile Albtraum einer jeden Schwiegertochter. Kaum hatte Ilse ihre Koffer ausgeräumt, stand die neue Schwiegermutter im Rahmen der Schlafzimmertür und verlangte, dass Ilse augenblicklich den Rasen mähte. Alois war Einzelkind und trotz seiner turbulenten Jugend der ganze Stolz seiner Mutter. Aloisia Irrwein war keine böse Frau, Großzügigkeit und Toleranz waren ihr jedoch fremd. Sie war eine geborene Millstädt, und ihre Eltern hatten sich seinerzeit so sehr geliebt, dass sie vierzehn Kinder in die Welt gesetzt hatten. Doppelt so viele, als man damals in St. Peter am Anger ohne Entbehrung großziehen konnte. Aloisia Irrwein war die älteste Tochter der Familie, und drei Tage nach ihrem zwölften Geburtstag, der wie jeder andere Geburtstag aus Geldmangel nicht gefeiert worden war, starb die Mutter nach der Totgeburt des fünfzehnten Kindes. Wie es auf dem Land üblich war, musste Aloisia daraufhin die Erziehung der jüngeren Geschwister und das Kochen für die älteren Brüder übernehmen. Der Kampf ums Überleben hatte sie so verhärtet, dass sie für alles eine Gegenleistung verlangte. Liebe hielt sie für eine Torheit, die rationiert werden musste, damit man nicht zu viele Kinder bekam. Der alte Herr Irrwein hatte in jüngeren Jahren alle ehelichen Zusammenkünfte eines Jahres an zwei Händen abzählen können, in den Achtzigerjahren aber ließ sein Gedächtnis nach, und er vergaß, seine Frau in ihrer harschen Art zu bremsen, wie er es dem Dorf zuliebe zu tun gepflegt hatte.
Was Johannes Gerlitzen seiner Tochter Ilse nicht erzählt hatte, war, dass Aloisia Irrwein Johannes vor der Hochzeit aufgesucht und gefragt hatte, welche Gegenleistung die Familie Gerlitzen dafür erbringen würde, dass Ilse ihren einzigen Sohn heiraten durfte. Aloisia Irrwein hatte das Wort Mitgift nicht in den Mund genommen, aber beiden war sofort klar gewesen, was sie meinte – obwohl diese Tradition auch in St. Peter, wo alles dreißig Jahre später als im Rest der Welt geschah, nicht mehr praktiziert wurde. Dieses Gespräch fand während der Mittagspause der Ordination in der Küche statt. Aloisia Irrwein lugte während jedes Wortes auf das Service, das Elisabeth und Johannes zu ihrer Hochzeit bekommen hatten. Das hatte ihr schon damals gefallen, als Elisabeth es auf der Brautfeier ausgepackt hatte, und so beendete sie ihre Rede mit den Worten:
»So a schöns Service, hätt’ gar net denkt, dass’s des nu gibt.«
Daraufhin nahm Johannes eine Tasse aus der Anrichte, begutachtete sie, beobachtete, wie Frau Irrweins Augen beim Anblick der floralen Zierleisten rund um den Henkel leuchteten, woraufhin er die Tasse vor ihren Füßen auf dem Boden zerschmetterte.
»Verschwinde bloß und bete lieber, dass ich eure Kanalratte von einem Sohn nie auf dem Behandlungstisch liegen hab!«, brüllte er und jagte Aloisia Irrwein aus der Tür. Ihr Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Denken war so ausgeprägt, dass sie daraufhin beschloss, Ilse zu hassen, da der Doktor ihren lieben Alois verabscheute.
Anfangs waren es vor allem undankbare Arbeiten, die Ilse im Haus der Irrweins verrichten musste. Fenster putzen in der Zimmermannswerkstatt oder den Dachboden von Spinnweben säubern. Doch egal wie lang Ilse arbeitete oder wie sehr sie sich bemühte, die Schwiegermutter hatte etwas auszusetzen. Und wenn sie nörgelte, beschwerte sie sich niemals nur über das aktuelle Problem, sondern erniedrigte Ilse so gut sie konnte. Sie sagte nicht: »Du putzt net g’scheid.« Aloisia Irrwein sagte: »Du bist wirkli zu nix z’gebraucha. Bist du sogar z’bled, an Putzfetzn zum Halten? Kochn kannst net, deine Kuchn sand hoart wia Stoa, net amoi schwanger
Weitere Kostenlose Bücher