Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
als der von Ilse. Reinhard Rossbrand und Toni Rettenstein, die besten Freunde, Saufkumpane und ewige Komplizen von Alois, verstanden nicht, dass plötzlich ein anderer Wind durchs Dorf wehte. Toni Rettenstein fuhr eines Tages mit seinem Vater zur Heuarbeit, als dieser plötzlich mitten auf dem Feld den Traktor abstellte und seinem Sohn befahl auszusteigen. Toni tat, was der Vater wollte – er vermutete, dass er etwas am Anhänger in Ordnung bringen sollte, doch Anton Rettenstein sah ihn vom Fahrerbock aus streng an, und sagte:
»So, und hiazn knie di nieda und frag, ob i di heiratn wüll.«
Toni blickte seinen Vater wie ein vom Fernlicht geblendetes Reh an, bis Anton Rettenstein seine Geduld verlor und schimpfte:
»Bist deppert, oder wos? Du übst hiazn, wia du da Ebersberger Mariann morgn an Heiratsantrag machst. De Weiber sand grod olle narrisch, oiso schau, dass’d z’recht kommst, sonst bleibst über, und de Mariann is a guate Partie, de bringt fünf Felder mit!«
Reinhard Rossbrand, der ebenso begriffsstutzig war, hatte nicht das Glück, dass ihm sein Vater auf die Sprünge half. Seine Freundin Angelika Ötsch ließ ihn nach Alois’ und Ilses Verlobung nicht mehr näher als einen Meter an sich heran. Reinhard Rossbrand war wie sein Vater Briefträger und Witzbold, doch nach einer Woche ohne Körperkontakt mit Angelika gingen ihm die Witze aus, und nach zweieinhalb Wochen Abstinenz verursachte er das größte Chaos auf dem Postamt in der Geschichte von St. Peter am Anger, indem er gedankenverloren keinen einzigen Brief zu seinem eigentlichen Bestimmungsort trug. Als Angelika davon hörte, dass die unanständigen Heftchen des lüsternen Fritz Ebersberger der Pfarrersköchin Grete zugestellt worden waren, woraufhin diese in Ohnmacht gefallen war, erlöste sie Reinhard aus seiner Qual, denn sie wollte schließlich nicht, dass ihr zukünftiger Ehemann seinen Posten verlor.
»I lass di erst wieda zuwi, wennst mi g’fragt hast, ob i di heirat«, erklärte sie ihm streng, woraufhin Reinhard seine Briefträgertasche an Ort und Stelle zu Boden fallen ließ und zu Fuß ins Tal lief, um einen Ring zu kaufen. Der Juwelier im Tal, der noch neu im Geschäft war, wunderte sich in diesen Herbstwochen über all die jungen Männer vom Angerberg, die ihm Verlobungsringe abnahmen wie Meterware – obwohl man sonst nur überaus selten Menschen aus St. Peter in Lenk im Angertal sah. Sein Vorgänger, der alte Juwelier, erklärte ihm schließlich, dass die Dorfbewohner seltsamerweise nur gehäuft im Geschäft auftauchten, worauf man sie zehn Jahre lang nicht mehr sehe, bis sie dann zum zehnten Hochzeitstag wiederkämen, die Ringe der Frauen weiter machen ließen und kleine Goldkettchen kauften, sodass die Frauen die Ringe der Männer um den Hals tragen könnten. In St. Peter am Anger galt es nämlich als unmännlich, den Ring über das zehnte Hochzeitsjahr hinaus selbst zu tragen.
Johannes Gerlitzen war der einzige Mann, der zweiundzwanzig Jahre nach seiner Hochzeit noch den Ehering trug. Nicht Ilse hatte ihm von ihrer Verlobung erzählt, die Nachricht war vielmehr vom Dorftratsch zu ihm getragen worden, kaum dass Ilse Ja gesagt hatte. Johannes sprach daraufhin vier Wochen lang kein Wort mit ihr. Jeden Tag suchte er Elisabeths Grab auf, brachte ihr frische Blumen, zündete eine Kerze an und vertraute dem Marmorgrabstein an, wie verzweifelt er war. Der Marmorgrabstein antwortete ihm jedoch nicht, genauso wie das Friedenslicht ihm nicht weiterhalf, also ging er nach einem Monat des Verzagens ins Wirtshaus, setzte sich an die Schank und bestellte einen Adlitzbeerenschnaps. Ausnahmslos alle waren überrascht, den Dorfdoktor plötzlich Alkohol bestellen zu sehen, besonders die Stammtischrunde. Anton Rettenstein, Wilhelm Hochschwab, Friedrich Ebersberger und Gerhard Rossbrand fragten ihn, ob er sich nicht zu ihnen setzen wolle. Johannes Gerlitzen drehte sich auf seinem Hocker um und betrachtete die vier, wie sie rund um den Stammtisch saßen. Plötzlich verstand er, dass ein Generationenwechsel stattfand, dass alle Kinder heiraten, Häuser bauen und selbst Kinder bekommen würden, genauso wie sie selbst es einst getan hatten. Als er seine vier ehemaligen Freunde so sitzen sah, war ihm klar, dass diese nun zum Ältestenrat wurden, während diejenigen, die zu seiner Jugend den Ton im Dorf angegeben hatten, verstarben. Johannes Gerlitzen ließ seinen Schnaps unberührt am Tresen stehen, nahm seinen Mantel und ging nach Hause,
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