Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Meter vom Haus entfernt stand, stieg sie durchnässt ein. Sie steckte den Schlüssel in die Zündung, ließ den Motor aber nicht an. Auf der Windschutzscheibe war der Regen gar nicht mehr als solcher auszumachen, eine einzige Wasserwand lief über die Scheibe, als ob sie unter einem Sturzbach geparkt hätte. Durch das Beifahrerfenster beobachtete Ilse, wie das grelle Halogenlicht der Küchenzeile anging und sich wenig später um Punkt 19 : 30 Uhr die Blautöne des Fernsehapparates dazugesellten. Sie wusste, die beiden sahen sich Zeit im Bild an, nicht wie Alois die Science-Fiction-Serie auf dem anderen Kanal. Ilse sah es vor sich, wie der kleine Johannes an seinem Gute-Nacht-Kakao nuckelte und mit dem großen Johannes Nachrichten schaute. Der große Johannes würde ihm bei den Internationalen Nachrichten zeigen, in welchen Ländern er auf seinen Wurmkongressen schon gewesen war. Bei den Politikberichten aus der Hauptstadt, wo er gelebt hatte, würde er ihm erzählen, wie schön es dort sei, welche Erlebnisse er dort gehabt hatte. Der Globus und der Stadtplan lagen nicht zufällig auf dem Sofatisch, Ilse wusste Bescheid. Als sie jung gewesen war, hatte er es nicht anders gemacht. Sie klammerte sich an das Lenkrad, immer noch ohne den Motor einzuschalten. Ihre Nägel bohrten sich in das abgewetzte Leder, während sie gegen aufwallende Weinkrämpfe kämpfte. Sie wusste nicht, wieso, aber in diesem Moment fühlte es sich an, als wäre der Johannes nicht ihr Kind, sondern das ihres Vaters und als wäre sie selbst nicht sein Kind.
Johannes Gerlitzen fuhr mit dem Zeigefinger die Buchrücken der Abteilung Antike Literatur entlang und suchte nach Herodots Historien. Nachdem sie vor drei Jahren die Lektüre von Grimms Hausmärchen beendet hatten, hatten der große und der kleine Johannes beschlossen, sich chronologisch durch die europäische Literatur zu arbeiten. Die Ilias hatte den Anfang gemacht, da hatte der Doktor jedoch zweimal die Ausgabe wechseln müssen, bis er eine Fassung gefunden hatte, die für den Kleinen einigermaßen verständlich war. Trotzdem hatten sie sich sehr schnell und vor allem kursorisch durch das erste Werk Homers gearbeitet. Seitenlange Kataloge von Schiffen und Helden waren für beide nicht sonderlich spannend. Die Odyssee hatten sie letztes Jahr genauer gelesen, speziell die handlungsreichen Kapitel acht, neun, zehn, als Odysseus den menschenfressenden Lästrygonen, dem einäugigen Kyklopen Polyphemos und der geheimnisvollen Zauberin Kirke begegnet. Das Kapitel mit der Fahrt in die Unterwelt hatte der große Johannes übersprungen. Beim Vorauslesen waren ihm bei diesem Abschnitt die Haare zu Berge gestanden, außerdem fand er damals, es wäre noch nicht an der Zeit, mit seinem Enkel über das Sterben zu sprechen. Sein Finger glitt weiter; Sophokles, Euripides – wenn sein Enkel nicht da war, las Johannes Gerlitzen Dramatiker. Das aber war zu harter Stoff für seinen Enkel, außerdem zum Vorlesen völlig ungeeignet. Und da, zwischen den Lyriksammelbänden, die Johannes Gerlitzen auf einem seiner Ausflüge in die Stadt gekauft, aber nie aufgeschlagen hatte, standen die Historien von Herodot.
Neben dem Kinderbett im Kabinett befand sich ein Lesesessel, und an den Wänden hingen Poster vom Periodensystem, auf denen die Elemente als lustige kleine Krümelwuschel dargestellt waren. Der Körper des Buben war bis zum Kinn unter der Daunendecke vergraben, die Brille hatte er bereits abgenommen und im Etui auf dem Nachttisch verstaut. Johannes Gerlitzen blätterte die Seiten um. Auch bei Herodot widmeten sie sich nur den spannenden Passagen. Das letzte Mal hatten sie die Geschichte des Perserkönigs Kyros gelesen, der als Bub ausgesetzt und von Rinderhirten erzogen worden war, durch einen Wink des Schicksals jedoch zurück an den Hof gefunden hatte. Johannes fand seine Randnotiz wieder: Er hatte vor der Geschichte des Harpagos aufgehört. Dieser war für Kyros’ Schicksal verantwortlich, doch Johannes wollte den Fortgang der Geschichte nicht lesen – Harpagos wurde nämlich dadurch bestraft, dass man seinen Sohn abschlachtete und ihm als Mahlzeit vorsetzte.
»Also, kannst dich noch erinnern, wie wir letztens von Kyros als Kind gelesen haben?«
Der kleine Johannes nickte, die Augen weit aufgerissen. Sein Großvater hatte eine sanfte, tiefe Stimme und konnte spannend vorlesen.
»Jetzt drehen wir die Zeit ein bisschen nach vorn, bis Kyros ein erwachsener Mann ist. Kyros hat beschlossen, die
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